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"Einleitung in die Phänomenologie". Vorlesungen aus dem Sommer 1912
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Ich beginne mit einer Einleitung.[1]
[Einleitung]
[Um] eine gemeinsame Wanderung in unbekannte Forschungsgebiete zu unternehmen, brauchen wir selbstverständlich uns allen bekannte und gegebene Ausgangspunkte. Diese liegen also vor dem noch Unbekannten und allererst zu Erforschenden. Sie brauchen keineswegs theoretische Voraussetzungen für das zu erforschende Neue zu enthalten, sie brauchen nicht Fundamente zu sein, auf welchen sich die Themata der Forschung logisch aufbauen. Ausgangspunkte brauchen keine andere Vorgegebenheit und Bekanntheit zu besitzen als diejenige, welche für die Möglichkeit einer Heranführung [und] Hinleitung zur intendierten Forschungsdomäne erforderlich ist; diese mag ihre eigenen Anfänge haben, die nicht vorgegeben, sondern durch die ersten Handlungen forschender Arbeit ergriffen sind. In unserem Fall nehmen wir als Ausgangs- und Treffpunkt unserer Wanderung, als den gemeinsamen Boden, über den wir ohne weiteres verfügen, den des natürlichen Vorstellens und Denkens und den der allgemeinen Sprache, die sich nach dem natürlich Gegebenen und Gemeinsamen verständlich orientiert. Unser gemeinsames philosophisches und psychologisches Wissen setzen wir außer Aktion; haben wir etwas schon von Phänomenologie gehört, so scheiden wir es aus und das vor allem anderen; denn Phänomenologie soll es allererst sein, zu dem wir gemeinsam hinwandern wollen. Und ist es Phänomenologie des „erlebenden“, „wahrnehmenden“,
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„erinnernden“, phantasierenden, bildvorstellenden und sonstigen Bewusstseins, auf die wir abzielen, so nehmen wir als Ausgangspunkt nur dies, was uns bei Ausschaltung dieses mysteriösen Titels „Phänomenologie“ als natürliche Menschen, als Mitglieder unserer Sprachgemeinschaft dabei verständlich ist und was wir uns jeweils an Beispielen klarmachen. [1] „Ich nehme wahr“, z.B. das Haus gegenüber, die Bänke und Menschen in diesem Raum usw., das versteht jeder. Ich nehme wahr, d.i., ich sehe es, ich betaste es, ich höre es usw. Als „Gebildete“ wissen wir, dass sich mit dergleichen „psychischen“, „geistigen“ Erlebnissen Wissenschaften, genannt Psychologie, Physiologie und Psychophysik, beschäftigen. Aber in diese Wissenschaftsgebiete wollen wir in keiner Weise uns hineinbegeben; unsere Forschungen sollen weder naturwissenschaftlich noch psychologisch sein. Es handelt sich uns nicht darum, Erfahrungen zu vollziehen, weder äußere noch innere. Also auch nicht darum, Beobachtungen und Experimente zu vollziehen, weder an uns noch an anderen Versuchspersonen. Durch Beobachtung – das Wort so verstanden, wie es jede naturwissenschaftliche Beobachtung illustriert – werden reale Tatsachen festgestellt. Wir werden keine einzige reale Tatsache feststellen. Wie innerhalb der Erfahrungswirklichkeit, der durch Erfahrung fassbaren Realitäten, die willkürliche Abänderung realer Umstände reale Folgen nach sich zieht, erforscht man im Experiment. Wir aber haben hier nicht das geringste Interesse an der seienden Realität und ihren Zusammenhängen, nämlich nichts von ihr wollen wir erforschen. Wir wollen also nicht erfahren, und wenn wir erfahren, wollen wir nicht durch Erfahrung Erkenntnis gewinnen. Also das sagt z.B., dass, wenn wir uns in sogenannter phänomenologischer Absicht mit Wahrnehmungen, Erinnerungen, Erwartungen, Phantasien, Glaubenserlebnissen usw. beschäftigen, uns all diese Erlebnisse nicht als reale Fakta und in keiner erfahrungstheoretischen Weise beschäftigen werden.
[1] Randbemerkung Schief dadurch, dass Ausschaltung von Realität nur verstanden wird als Ausschaltung der empirischen (erfahrenen). Später aber tritt es hervor, dass auch Idee der Realität nicht infrage kommen soll.
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Erinnerungen, Phantasien, Wahrnehmungen usw. als Vorkommnisse dieser daseienden Welt, als zeitliche Ereignisse, die im Zusammenhang tierischer oder menschlicher Seelen auftreten, psychophysisch verknüpft mit materiellen Dingen der raumzeitlichen Wirklichkeit, genannt tierische Leiber, Sinnesorgane, Nervensystem usw., sollen nicht im Entferntesten die Objekte unserer Forschung sein. Nicht im Entferntesten wollen wir erforschen, was realiter ist; weder was im Zusammenhang der physischen Natur ist, ja dass überhaupt eine physische Natur ist, wollen wir feststellen, noch was mit ihr wie immer verflochten unter dem Titel geistiger, seelischer Realität ist. Und doch heißt es Phänomenologie der Wahrnehmung, der Erinnerung, Phänomenologie dieser oder jener Bewusstseinsarten wie auch korrelativ Phänomenologie der wahrgenommenen, der perzeptiv oder reproduktiv erscheinenden Natur, Phänomenologie der Geister usw. Sind jenes nicht psychische Erlebnisse? Und sind psychische Erlebnisse nicht eo ipso Realitäten? Und erst recht Natur, Geist, in Bezug worauf es auch eine Phänomenologie geben soll. Offenbar muss gemeint sein, dass, wo immer in der natürlichen, und zwar erfahrungswissenschaftlichen Einstellung etwas als Erfahrenes bewusst und somit als reales Faktum gesetzt und erforscht ist, eine Änderung der Einstellung möglich ist, die wir die „phänomenologische“ nennen, die alle Realitätssetzung ausschaltet, sozusagen außer Gefecht setzt, während dabei noch immer etwas übrig bleibt oder vielmehr etwas neu hervortritt, was erfassbar, theoretisch setzbar und erforschbar ist: etwas, was Erfahrungsforschung nicht sieht und erforscht. Es handelt sich hier um den kardinalsten Unterschied im Gesamtbereich der Erkenntnis, von dessen Erfassung Sein und Nichtsein erkenntnistheoretischer Wissenschaft und in weiterer Folge Sein und Nichtsein wissenschaftlicher Philosophie ganz und gar abhängt. Erst wenn man diesen Unterschied in seiner vollen Bedeutung erfasst hat, kann man es verstehen, dass es Philosophie als eine eigene Wissenschaft geben kann, und eine Wissenschaft so streng, so exakt wie nur irgendeine, also etwa wie Mathematik.
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Und nur so kann man es verstehen, dass Philosophie eine eigentümliche Wissenschaft ist, die allen anderen Wissenschaften gegenübertritt, dass sie eine Erkenntnisdomäne hat, die unterschieden ist von denjenigen aller anderen Wissenschaften, und dass ihre Erkenntnis andererseits doch alle Erkenntnis und Wissenschaft überhaupt umspannt. In dieser Hinsicht kommt alles darauf an, dass man sich sogleich von der Universalität der Phänomenologie überzeugt, also sich davon überzeugt, dass die geänderte Einstellung und Forschungsweise nicht etwas Vereinzeltes oder auf vereinzelte Gebiete Beschränktes ist, vielmehr dass sie so weit reicht, als nur irgend empirische Einstellung reichen mag, dass jede empirische Einstellung ihre Umwendung in phänomenologische zulasse und sogar in verschiedenen Hinsichten, und endlich, dass phänomenologische Einstellung und Forschung nicht bloß etwas der empirischen Gleichstehendes und Gleichumfängliches, sondern genauer besehen ihr im Umfang ihrer Möglichkeit und Herrschaft unendlich Überlegenes ist. Anstatt phänomenologische Einstellung kann man auch sagen: ideenwissenschaftliche oder eidetische in der Bewusstseinssphäre (transzendentalen). In der Tat ist die Einstellung keine andere als diejenige, die überall in der von Plato entdeckten Ideenforschung oder Wesensforschung statthat. Der neue Name erwuchs daraus, dass erst in den Logischen Untersuchungen die Erkenntnis zum Durchbruch kam, dass Bewusstseinserlebnisse und all die Phänomene, die ihre Korrelate bilden, nach einheitlicher Methode eidetischer Forschung unterstellt werden können und dass vom Empirismus fälschlich weginterpretierte eidetische Sphären der Tradition, wie die rein logische und rein mathematische Sphäre, mit den neuen Sphären zu einer gewissen Einheit gebracht werden müssen. Eben damit erwuchs aber erst die Idee einer allübergreifenden Ideen- oder Wesensforschung – die doch wieder geschieden werden muss von der Ideenforschung der alten apriorischen Disziplinen –, an der wir seitdem immerfort arbeiten: ein unendliches Arbeitsfeld, das Feld aller wissenschaftlichen Philosophie.
[Empirische und eidetische Forschung. Phänomenologische Forschung als eidetische]
Was ist das nun aber, phänomenologische und zunächst allgemein eidetische Wesensforschung?
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Die beiden letzteren Ausdrücke besagen es schon terminologisch, dass Forschung sich richten kann auf das Eidos, auf das Wesen, auf die essentia, und die essentia kann überall erforscht werden ohne Erforschung und Feststellung der exist[entia]. Nehmen wir etwa Wahrnehmungen. Wahrnehmungen sind, wenn sie eben wirkliche sind, Erlebnisse eines Menschen, eines psychischen Wesens, das mit seiner Leiblichkeit in der Natur steht. Erforschungen von Wahrnehmungen sind, wenn es sich um wirkliche Erlebnisse handelt, psychologische Forschungen. Wie dergleichen Erlebnisse bei Menschen und Tieren auftreten, unter welchen Naturbedingungen, das kann und muss durch Beobachtung und Experiment festgestellt werden. Sofern diese Erlebnisse mit anderen nach „Naturgesetzen“ geregelt in der Realität auftreten, unterliegen sie allgemein psychologischer Untersuchung. Wahrnehmungen können aber nicht nur als reale Existenzen deskriptiv und gesetzlich erforscht werden. Sie unterliegen auch der Wesensforschung. Wesensforschung geht auf Wahrnehmungen nicht als Existenzen, sondern als Essenzen. Erforscht wird dabei, was „das Wesen von Wahrnehmung als solcher“, das „reine“ Wesen ausmacht, was im „reinen Wesen“ liegt, was unabtrennbar „zu Wahrnehmung als solcher“ gehört. Und wiederum zu jeder allgemeinen Gestaltung von Wahrnehmungen, z.B. zur Dingwahrnehmung, zur Wahrnehmung von sinnlichen Scheinen, die nicht als Dinge bewusst sind, zur Wahrnehmung von beliebigen psychischen Erlebnissen, die ebenfalls doch keine Dinge sind (keine materiellen Körper) u. dgl. Ich sage, zu jeder Grundart von Wahrnehmung gehört eine besondere Sphäre von reiner Wesensforschung, die gar nicht nach Existenz fragt, sondern nur nach dem, was in solchen Wahrnehmungen so liegt, dass sie ohne dergleichen nicht gedacht werden können. Was hier gemeint ist, kann jedermann, der, unberührt durch empiristische Vorurteile, anerkennt, was er unmittelbar sieht, nämlich dass geometrische Axiome nicht über Faktizitäten der Natur, sondern über das Wesen des Raumes Aussagen machen, sich näherbringen.
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Die Eigenschaften der geometrischen Grundgebilde werden nicht erfahren, werden nicht durch Beobachtung und Versuch festgestellt, sondern wie diese Gebilde selbst wesensmäßig erschaut. Geometrie sagt, wie das die alten Rationalisten, ja sogar noch unter den Empiristen Männer wie Locke längst gesehen haben, über die Realität nicht das Mindeste aus. Ihre Sätze gelten, mag es so etwas wie eine wirkliche Natur mit einem wirklichen Raum geben oder nicht. Nun in eben diesem Sinn gibt es eine Erfassung des Wesens von Wahrnehmung, von Erinnerung, von Urteil, von Psychischem jeder Art, womit aber keineswegs gesagt ist, dass die auf diese Erlebnisarten bezogene Wesenslehre in allem den Charakter der Geometrie hat, also eine Art Mathematik ist, eine sogenannte deduktive Wissenschaft. Welche wissenschaftstheoretischen Formen eine eidetische Wissenschaft hat, das hängt von den Grundbegriffen oder vielmehr Grundideen ab, die ihre Domänen bilden, und da ist dann das Wesen des Raumes als eines gewissen dreidimensionalen Ordnungssystems und das Wesen von Raumgestaltungen als Gestaltungen eines solchen Ordnungssystems freilich etwas ganz anderes als das Wesen von Wahrnehmung, von Urteil usw. Andererseits aber bleibt das gemeinsam, dass beiderseits Wesensforschung in gleichem Sinn möglich ist, und das muss man sich, da gerade die phänomenologische Erforschung der Bewusstseinsarten für die Gewinnung der philosophischen und vernunftkritischen Domänen entscheidend ist, völlig klarmachen. Gerade das hat man nie gesehen, geschweige denn, dass man gesehen hätte, dass hier ein unendliches Feld fruchtbarster Arbeit ist.
Ist [1] das Charakteristische der Wesensforschung dies, dass keinerlei existenziale Setzung realen und überhaupt individuellen Daseins statthat, so liegt darin schon, dass die einsichtige Erfassung der Wesen, die sie fixieren und theoretisieren will, zwar eben als Einsicht der Anschauung bedarf, dass diese Anschauung aber nicht Erfahrung ist bzw. nicht als Erfahrung fungiert. Und damit hängt zusammen, dass auch fingierende Anschauung, wenn sie nur hinreichend klar, d.i. wirklich gebende Anschauung ist, der Forschung dienen kann, ebenso wohl wie erfahrende Anschauung (wie wirklich erfahrende), die dann eben in Bezug auf den Umstand, dass sie Erfahrung ist, nicht in Aktion tritt.
[1] Beginn einer neuen Vorlesungsstunde (Samstag, 4. Mai 1912).
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Der Geometer mag auf die Oberfläche zeichnen. Er mag auch mit Rechtecken und sonstigen Figuren in seinem Anschauen beschäftigt sein, die ihm aktuelle Erinnerung, die Erinnerung an wirkliche Formen wirklicher Gegenstände an die Hand gibt. Offenbar ist aber die Wirklichkeitssetzung dabei völlig irrelevant. Die Zeichnung mit Tinte und Kreide ist zwar erfahrungsmäßig vor Augen, aber nicht ist das Erfahrene sein Objekt, es dient die Zeichnung vielmehr als bloßes Exempel, als Sprungbrett für die intuitive Erfassung des Wesens, des Wesens Dreieck, Viereck usw. Er gebraucht nicht den Ausdruck Wesen, er sagt Figur. Aber Figur ist da eben schon das Wesen. Demnach können ihm ebenso wohl beliebige Fiktionen von singulären sinnlichen Raumgestalten in gleicher exemplarischer Absicht dienen, und dienen ihm de facto beständig.
Genauso in der Phänomenologie der Bewusstseinsgestaltungen, in der Wesensforschung psychischer Erlebnisse und Erlebniskorrelate, z.B. in der Erforschung des Wesens von Wahrnehmung, Erinnerung usf. Es mögen uns dabei Wahrnehmungen, wirkliche Wahrnehmungen, die wir gerade aktuell vollziehen oder deren früheren Vollzuges wir uns wieder erinnern, dienen, d.i. als Exempel, als Fundamente der Erschauung des Wesens Wahrnehmung dienen. Aber in der exemplarischen Einstellung ist uns die erfahrene Wahrnehmung als Erfahrenheit gleichgültig. Eben darum kann uns in erheblichem Maße (und prinzipiell gesprochen überall) eine Fiktion, in der wir uns in ein Wahrnehmen hineinfingieren, genau ebenso gut dienen. Wir phantasieren uns z.B. in ein Märchenland hinein; ringsum blühen auf grünen Wiesen herrliche Blumen, mit denen Elfen spielen usw. Das sind für unsere Studien ebenso gute Exempel als wirklich vollzogene oder erinnerungsmäßig reproduzierte Wahrnehmungen. Vorausgesetzt ist dabei nur, dass die Wahrnehmungsfiktion eine klare, wirklich anschaulich bewusstmachende ist. Nur soweit sie es ist, soweit können wir aus ihr einsichtig Wesensmomente entnehmen. Nur mit Beziehung darauf, dass phantasierende Anschauung uns oft nicht den Gefallen tun will, sich zu hinreichender Klarheit zu entfalten, werden wir möglichst wirkliche Wahrnehmung bevorzugen: etwa so wie ein Geometer, der keine lebendigen Phantasien hat, mit Vorliebe an Zeichnungen oder an Modellen seine Wesensintuition orientieren wird. Bei dem rohen Empirismus, der die letzten Jahrzehnte fast ganz beherrscht hat,
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bei den positivistischen und sensualistischen Vorurteilen, welche die neuzeitliche Psychologie beherrschen und sie für unendliche Felder ganz unmittelbarer und evidentester Gegebenheiten blind gemacht haben, ist es begreiflich, dass unsere Gegenübersetzung von phänomenologischer und empirisch-psychologischer Forschung in Psychologenkreisen unverstanden geblieben ist. Damit hängt es zusammen, dass in der psychologischen Literatur seit einigen Jahren zwar reichlich von Phänomenologie die Rede ist, dass aber darunter nichts weiter verstanden ist als deskriptive Psychologie auf dem Grund der inneren Erfahrung. Alle vorliegenden Anfänge einer reinen Phänomenologie werden in diesem Sinn fälschlich umgedeutet. Das Ideale, in Wesensintuition Erschaute wird umgedeutet in Reales, in psychologische Fakta, gewonnen durch immanente Erfahrungsanalyse.
Es gibt sicherlich keine für Philosophie und zugleich Psychologie in selbem Maße schädigende, ja geradezu verderbliche Vermengung als die zwischen psychologischer Erfahrung und Wesenserschauung, zwischen psychologischer Analyse und phänomenologischer Analyse, zwischen psychologischer Wissenschaft und phänomenologischer Wissenschaft. Natürlich ist das aber nur ein Spezialfall des allgemeinen philosophischen und wissenschaftstheoretischen Unterschiedes zwischen Erfahrung überhaupt und Wesenserfassung überhaupt, Erfahrungsdenken a posteriori und reinem, wesensmäßigen apriorischen Denken, zwischen empirischer und apriorischer Theorie und Wissenschaft, und korrelativ zwischen Natur, individueller Wirklichkeit überhaupt und Idee, idealem Sein überhaupt. Der Naturforscher und ebenso jeder vorwiegend durch naturwissenschaftliche Gedankenkreise Bestimmte wird hier freilich protestieren. Ideen gegenüber Tatsachen, was sind das anderes, wird er sagen, als metaphysische Gespenster. Die Menschheit von ihnen erlöst zu haben, das ist das größte aller Verdienste, das die menschliche Kultur der Naturwissenschaft verdankt. Naturwissenschaft, wird er weiter sagen, ist selbstverständlich
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allumfassende Wissenschaft, sie ist im weitesten Verstand die Wissenschaft von der Wirklichkeit. Also alles, was wirklich ist, ordnet sich der einen Allnatur irgend ein und beschäftigt die entsprechenden naturwissenschaftlichen Spezialdisziplinen, seien es nun physikalische und überhaupt auf materielle Wirklichkeit bezogene oder psychologische und psychophysische Disziplinen. Das Psychologische, z.B. die psychischen Erlebnisse von Menschen oder Tieren gehören als reale Tatsachen mit zum einheitlichen Bestand der psychophysischen Natur.
Was kann also übrig bleiben? Was nicht in Wirklichkeit ist, ist eben Einbildung, und eine Wissenschaft aus Einbildung ist eben eingebildete Wissenschaft. Einbildungen als psychische Fakta lässt der Naturwissenschaftler natürlich gelten, sie gehören zur Domäne der Psychologie. Ihr sind diese Erlebnisse Objekte, wie andere psychische Objekte sind sie gegeben durch psychologische Erfahrung und unterliegen Methoden erfahrungswissenschaftlicher Behandlung. Dass aber das Einbilden selbst und nicht Erfahrung von Einbildung als erkenntnisgründender Akt fungiert, dass es aus sich Forschungsgegenstände und Erkenntnisse hergeben soll, die nicht erfahrungsmäßige sind, dass auch Erfahren selbst in geänderter Einstellung, die gerade seinen spezifischen Charakter als Erfahren ausschaltet, und gleichgestellt mit dem Einbilden, für neue Erkenntnisdomänen, genannt „ideale“, das Sprungbrett abgeben will: das erscheint dem Naturwissenschaftler als ideologische Verstiegenheit. Er wittert dahinter auch sogleich jene verpönten „spekulativen Konstruktionen apriori“, die nüchterne Tatsachenforschung verwirren wollen, jenen nebulosen metaphysischen Tiefsinn, der sich der Erfahrung gegenüber angeblich höherer Erkenntnisweisen rühmt, aber in seiner Verworrenheit nur sein naturwissenschaftliches Unverständnis dokumentiert.
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Indessen, all das beruht auf Missverständnissen. Fasst man den Titel Natur, über die Sphäre der physischen Natur hinausgehend, als den Gesamtbereich der räumlich-zeitlichen Wirklichkeit, so ist Naturwissenschaft eben Wissenschaft von aller wirklichen realen Wirklichkeit. Wissenschaft von der Wirklichkeit überhaupt ist sie nur dann, wenn eben das Wort Wirklichkeit diese Gesamteinheit räumlich-zeitlicher Realität deckt. Weiter ist auch selbstverständlich, dass unter dieser Voraussetzung alle Wirklichkeitserkenntnis Erkenntnis aus Erfahrung ist. Denn das ist gewiss, dass jede naturwissenschaftliche Erkenntnis, sei sie noch so allgemein und abstrakt, in letztem Grund auf dem Dasein setzenden Akt des Erfahrens oder, wie wir auch sagen können, auf Wahrnehmung beruht. Denn offenbar ist es Wahrnehmung, in der wir ganz unmittelbar und originär räumlich-zeitliches Sein als wirklich erfassen; und auf diese unmittelbare Erfahrungserkenntnis leitet alle naturwissenschaftliche Erkenntnis als mittelbare Realitätserkenntnis methodisch zurück, die darum ganz korrekt erfahrungswissenschaftliche heißt. Also ganz sicher ist es: Die naturalen Gegenständlichkeiten, oder einfacher: die naturalen Wirklichkeiten, die der wirklichen Natur, nicht naturaliter, d.i. eben erfahrungswissenschaftlich erforschen wollen, das wäre ein Nonsens. Wenn eine Philosophie in dieser Hinsicht den Naturforscher eines anderen belehren und ihm hinsichtlich der Naturforschung irgendwelche spekulativen, nicht empirischen Forschungsweisen zumuten wollte, so verdiente sie sicherlich jede Missachtung.
Andererseits ist mit all dem nicht gesagt, dass es überhaupt nichts anderes gibt als Naturwirklichkeit, m.a.W., dass wahrhaftes Sein im weitesten Sinn sich decken muss mit räumlich-zeitlichem Dasein, Wahrheit überhaupt mit realer Wahrheit.
Selbstverständlich darf man sich hier nicht an Worte hängen und schließlich um bloße Worte streiten. Wer Sein und reales Sein, sei es auch unwillkürlich, identifiziert, für den ist begreiflicherweise nicht-reales Sein ein Widerspruch. Und ebenso ergeht es ihm mit den parallelen Begriffen. Fassen wir aber Sein als Korrelat zu Wahrheit im weitesten logischen Verstand und nennen wir alles, was in einem wahren affirmativen Satz als Subjektgegenstand fungieren kann (jedes mögliche Subjekt gültiger Prädikate), ein Seiendes,
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dann ist es ganz offenbar, dass Sein und reales Sein, wirklich Soseiendes und in realer Wirklichkeit Soseiendes nicht dasselbe besagt, vielmehr dass das Seiende eine unendliche weitere Sphäre ist als das real Seiende, [dass] das Wahre mit dem realiter Wahren [nicht identisch ist] .
Es gehört heutzutage allerdings ein gewisser Mut, ein gehöriger fond innerer Freiheit, eine nicht geringe Fähigkeit zu vorurteilsfreier Hingabe an das vor aller „Theorie“ in unmittelbarer Klarheit Vorliegende dazu, um hier Zeugenschaft ablegen zu können. Nur zu leicht unterliegen wir Suggestionen, nur zu leicht überwältigt uns die Autorität; und Autorität der Naturwissenschaft kann wissenschaftlich ebenso gefährlich sein wie Autorität der Kirche. Der Ruhm der ungeheuren Geistesleistungen, welche die Entwicklung der Naturwissenschaft gezeitigt hat[??] , wirft seinen Abglanz auf den einzelnen Naturforscher und gibt all seinen Aussprüchen ein besonderes Gewicht. Aber nicht immer spricht der Naturforscher sozusagen ex cathedra als Naturforscher, und vor allem nicht, wenn er philosophiert oder gar das, was sich in naturwissenschaftlichen Kreisen als philosophische Mode gerade durchgesetzt hat – gestern die materialistische, heute die positivistische –, unselbständig reproduziert. Allen Respekt vor dem Naturforscher, wenn er über seine naturwissenschaftlichen Entdeckungen spricht; ein Ostwald über seine chemischen, ein Haeckel über seine zoologischen, ein Mach über seine physiologischen und physikalischen Entdeckungen.
Fangen sie aber an, uns über Monismus, Energetism[us] , Idealismus, Positivismus und über Philosophisches sonst zu dozieren, so werden wir uns hüten müssen, durch solchen Respekt unser freies Urteil trüben zu lassen. Was gibt der Erfahrung, die sie alle preisen, auf die sie alle ihre methodischen Verfahrungsweisen in der Naturwissenschaft gründen, ihre Kraft und macht sie zur Autorität der Autoritäten? Darauf gibt es offenbar keine andere Antwort als die: Wo immer wir Vernunftfeststellungen über Gegenstände irgendwelcher Sphären prätendierter Wirklichkeit machen wollen, sei es konkret beschreibende und bestimmende, sei es universelle und gesetzliche, da müssen solche Gegenstände als wirkliche selbstverständlich uns irgend originär unmittelbar gegeben sein. Das gilt im Besonderen von den Gegenständlichkeiten, die der Titel Natur befasst.
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Es muss also Natur vor aller Theorie, vor aller mittelbaren Erkenntnis uns als seiende Wirklichkeit in unmittelbarer Weise gegeben sein, und alle mittelbare Feststellung muss aus der unmittelbaren schöpfen. Unmittelbare Gegebenheit von seiender Natur ist aber sinnliche Wahrnehmung, die Ur-Form der Erfahrung. Auf Erfahrung zurückgehen, die Erfahrung befragen und zur Richterin nehmen, das heißt also nichts anderes, als nicht von oben her, aus Vorurteilen, aus vagen Meinungen, aus unbesehenen Traditionen über die reale Wirklichkeit sprechen, sondern sie sich selbst ansehen, die in der Wahrnehmung und den weiteren Stufen der Erfahrung sich selbst bekundende, selbst und leibhaft bewusst werdende Natur uns Rede stehen lassen und nach Methoden, die sie uns hier quellenmäßig und einsichtig an die Hand gibt, vom unmittelbar Erfahrenen auf das nicht Erfahrene schließen.
Nun genau das gilt offenbar für alle wahrhaft seienden Gegenständlichkeiten, also auch für die etwa anzunehmenden Gegenständlichkeiten, die nicht Realität sind. Der Streit, ob es solche gibt oder nicht gibt, kann nicht durch Vorurteile, sondern nur dadurch entschieden werden, dass wir das sie unmittelbar gebende Bewusstsein als solches aufweisen und gelten lassen in der Autorität, die ihm, die jedem unmittelbar gebenden Erleben eo ipso zukommt, aber auch nur insoweit zukommt, als es in der Tat gebendes ist. Auch Erfahrung kann skeptisch [als] Naivität erscheinen. Solange sich die Menschheit durch die skeptischen Angriffe bestimmen ließ, konnte es keine Naturwissenschaft geben, oder die Anfänge der schon entwickelten Naturwissenschaft konnten keine Geltung erlangen. Die freie Entwicklung der Naturwissenschaft war erst möglich, nachdem allgemein die Skepsis an der Möglichkeit und am Recht der Erfahrung beiseite getan wurde. Ebenso kann es nun eine Ideenwissenschaft nicht geben, kann Ideenwissenschaft mindestens sich nicht in voller Freiheit entfalten, solange man den Ideen gebenden Akt, das erschauende Bewusstsein nicht in seinem Eigenrecht gelten lassen will und in vollem Umfang gelten lassen will. Hat Erfahrung überhaupt recht, so hat sie überall recht; hat Erschauung überhaupt recht, so hat sie überall recht. Der Rechtsgrund liegt nicht an der Besonderheit der erfahrenen bzw. erschauten Sachen.
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Es ist ferner zu sagen: So wie das Erfahren etwas Universelles ist, das wir üben und dem wir praktisch ein Recht zumessen, von dem wir uns also auch denkend leiten lassen, ob wir ihm in reflektiver erkenntnistheoretischer Bewertung ein Recht zuerkennen oder, durch Skeptizismen verwirrt, es ihm aberkennen, genauso und wörtlich, sage ich, ist das Schauen jeder Art und insbesondere das Ideenerschauen etwas ganz Universelles, das wir alle üben, dem wir in praxi ein Recht zumessen, von dem wir uns auch denkend leiten lassen, ob wir, durch naturwissenschaftlerische, positivistische Vorurteile verwirrt, ihm erkenntnistheoretisch Wert absprechen oder als „Idealisten“ ihm sein Recht belassen. Idee und Ideenschau ist nicht eine ganz neue und vordem nie erhörte Erfindung sonderlicher Philosophen, es ist etwas ganz Gewöhnliches: Alles ist voll Ideen, und unser Denken ist beständig durchsetzt von Ideendenken und auch Ideenschauen, und zwar sowohl das alltägliche, vorwissenschaftliche Denken und erst recht das wissenschaftliche.
Natürlich ist das irrelevant, dass die gewöhnliche Rede das Wort Idee oder Wesen in dem hier fraglichen Sinne nicht hat oder sich die erkenntnistheoretische Reflexion durch die Äquivokation, mit der dieses und gleich dienende Worte bald auf die Ideen in unserem Sinn, bald auf anderes Anwendung finden, in die Irre führen lässt; und insbesondere wirkt es irreführend, dass die allgemeine Rede die Ausdrücke für mannigfache besondere Ideen, die sie im Auge hat, bald für diese selbst, bald für die den Ideen „entsprechenden“ empirischen Einzel-Gegenständlichkeiten verwendet (obschon andererseits gerade seinen Äquivokationen ein guter Sinn und ein gewisses Recht zuzumessen ist).
Wer von den Tönen der Tonreihe spricht, wer da sagt, ein Glied dieser Reihe sei c, eines d usw., wer den allgemeinen Satz aussagt, dass
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von je zwei Tönen in dieser Reihe einer der tiefere, der andere der höhere, von je dreien einer der mittlere [sei], der spricht nicht von wirklich erfahrenen, in der Wirklichkeit seienden Tönen, sondern von Tönen als Ideen, die sich in wirklich gehörten, aber nicht minder in beliebigen zu fingierenden Tönen bloß exemplifizieren.
Vielleicht [1] sagt man, Tonideen seien nichts anderes als aus konkret erlebten Tönen herausgehobene „abstrakte Momente“, und das konkrete Erleben könne einmal ein normales Empfinden sein, auf äußeren Reizen beruhend, oder ein Phantasieren, auf reproduktiven Nachwirkungen früherer Empfindungen beruhend; seinen unmittelbaren psychophysischen Ursachen nach anders gestellt, aber in sich, deskriptiv, nicht wesentlich unterschieden von Empfindungen, abgesehen von Unterschieden der Lebendigkeit, Deutlichkeit usw. Aber wer so redet, verfehlt den ganzen Sinn der dargebotenen Unterscheidungen und verliert sich zudem in verkehrten Missdeutungen. Sehe und höre ich einen Flötenspieler, so sehe ich ein Ding, einen so und so begriffenen Menschen, der dort an dieser Raumstelle steht; ich sehe auch seine Flöte und ich höre Töne als aus dieser Flöte hervorquellend. Das „sehe und höre“ ich, mit einem Wort, das ist mir in unmittelbarer Erfahrung gegeben. Hat es einen rechten Sinn zu sagen, aus dem objektiven erfahrenen Ton, diesem räumlich seienden, hebe ich ein Bestandstück, ein abstraktes Moment heraus, und das sei die Idee Ton? Der Ton c als Idee, die der eine und einzige ist in der Tonleiter, ist doch nicht ein Stück dieses Flötentones, welcher ja mit allen seinen Momenten entsteht und vergeht, jetzt anklingt und alsbald verklingt, und wenn er verklungen ist, eben nicht mehr ist, sondern bloß war, und wenn er nie verklungen wäre, nie gewesen wäre. Der Ton der Tonleiter aber entsteht nicht und vergeht nicht, die Tonleiter hat nicht zeitweilig ein Loch, eine Lücke, wenn zufällig niemand da ist, der das c spielt.
[1] Beginn einer neuen Vorlesungsstunde (Mittwoch, 8. Mai 1912).
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Und fingieren wir jetzt einen flötenspielenden Zentauren, so ist auch das ein Raumding, nur ein fingiertes, und aus der fingierten Flöte entströmt als Fiktion der Flötenton, in den fingierten Raum hinausströmend. So wenig der Zentaur ist, ist der von ihm geblasene Ton; er ist ein frei Fingiertes. Also ist es nicht etwa ein psychisches Datum, ein psychischer „Inhalt“. Ebenso wenig als der phantasierte Zentaur ein Bestandstück des phantasierenden Erlebens ist, ebenso wenig der phantasierte Ton. Was soll das heißen, dass ich aus ihm, der nichts ist, ein „Moment herausnehme“ und das sei die Idee? Auch das Moment ist fingiertes Moment und hat seine fingierte Zeit wie seinen fingierten Ort. Die Idee aber ist weder etwas wirklich Reales noch etwas fingiert Reales; sie hat ihre Wirklichkeit, aber eben als Idee. Dass wir kein Phantasie-Bewusstsein hätten, wenn wir nicht vordem ein Wahrnehmungsbewusstsein gehabt, dass wir Töne nicht fingieren könnten, wenn wir Töne nicht wirklich gehört hätten, mag eine psychologische Wahrheit sein, ebenso wie es eine Wahrheit ist, dass wir keine Zentaur-Phantasien hätten, wenn wir nicht vorher Menschen- und Pferdewahrnehmungen gehabt hätten, und so irgendwelche Dingwahrnehmungen, aus denen sich die Phantasiegebilde ihrem dinglichen Inhalt nach zusammenbauen könnten. Aber was hat das hier zu sagen? Und können wir nicht ebenso gut wie die Idee eines Tones die Idee eines Menschen und so die eines Zentauren bilden? Und sollen wir sagen, diese Ideen seien Bestandstücke von Menschen bzw. von Zentauren? Aber hat das einen rechten Sinn?
Solche übrigens vielfältig gewendeten Verkehrtheiten, von denen die neuzeitliche Psychologie voll ist, haben ihre begreifliche Quelle darin, dass man die Wesenserschauung, die man tatsächlich beständig übt, in der psychologischen und erkenntnistheoretischen Reflexion nicht gelten lassen will. Man ist durch historische Motive innerlich bestimmt, Ideen als Gegenständlichkeiten nicht anzuerkennen; Ideen darf es also nicht geben, sie müssen also ein Psychologisches sein, denn was nicht physisch ist, ist eben, denkt man, Psychisches, was nicht objektiv draußen ist, das ist drinnen, drinnen in der Seele als psychisches Phänomen oder psychische Disposition.
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Und wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Man konstruiert sich etwas Psychologisches und deutet in der Reflexion die Wesensschauung und das geschaute Wesen weg und schiebt ihnen etwas total Anderes unter. Hier galt es und gilt es noch weiter, den Kampf gegen den Psychologismus durchzukämpfen; es gilt, den Star [zu] stechen, der die Zeitgenossen ideenblind gemacht hat. Es ist eine Seelenblindheit, ähnlich wie sie der Hypnotisierte hat, der mit gesunden Augen sieht und vermöge der hypnotischen Suggestion doch nicht sieht. Denn, wie gesagt, alle sehen und sehen immerfort Ideen, sie operieren immerfort mit ihnen in ihrem Denken, sie erklären und deuten das aber in nachkommenden erkenntnistheoretischen Reflexionen weg, ohne den Widersinn zu merken, der hier wie überall aus der Verkennung ursprünglicher Gegebenheiten entspringt. Besonders lehrreich ist in dieser Hinsicht die Nachweisung der widersinnigen Wegdeutung der logischen Ideen und der auf sie bezüglichen logischen Gesetze bei J. St. Mill und seinen Schülern, worüber Sie in meinen Prolegomena nachlesen können. Und ebenso die nicht minder absurden und leicht nachzuweisenden Widersinnigkeiten seiner Missdeutung der reinen Mathematik, insbesondere der reinen Arithmetik, die abermals sich in durchaus idealen Sphären bewegt, durchaus auf Wesenserschauungen anstatt auf Erfahrungen beruht. In der Tat ist es für den Vorurteilslosen, der unmittelbar Gegebenes als gegeben gelten lässt, ganz offenbar, dass die Anzahlenreihe, in der 2 eine Zahl, 3 eine andere Zahl ist usw., eine Ideenreihe und selbst eine Idee ist. Ebenso ist jeder rein logische und rein arithmetische Satz, wie a + 1 = 1 + a oder 2 x 2 = 4, auch jeder falsche Satz, wie 2 x 2 = 5, eine Idee. Das unmittelbar Gegebene liegt vor allen Theorien, es ist der letzte Grund, der allen Theorien eben Grund zu geben vermag. Das anzuerkennen und jedwede unmittelbare Gegebenheit, aber auch nur so, wie sie Gegebenheit ist, gelten zu lassen, das ist die echte Vorurteilsfreiheit, die wir überall betätigen müssen. Die Freiheit, die sich und uns die Naturwissenschaft erkämpfte, war nur eine halbe Freiheit.
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Gestrichen: Gewiss, sie brach den Bann der scholastischen Philosophie und Theologie, sie zerriss die feinen und überfeinen Gespinste erfahrungsferner Theorien, sie brach die Macht theologischer Dogmen, die all die Quellen sinnlicher Erfahrung verstopfen und die Missachtung der Gegebenheiten dieser Erfahrung durchsetzen wollten. Sie brach diesen Bann nicht etwa auf dem Weg neuer Theorien. Dass schlichte Erfahrung ihr Recht hat, das kann nicht bewiesen, das muss gesehen sein, und ebenso, dass keine Autorität das Recht der Gegebenheit in Unrecht verwandeln, dass keine Theorie es widerlegen kann, weil vielmehr alle Theorie es voraussetzt. Das aber gilt in demselben Sinn von der Gegebenheit des Idealen. Aber in dieser Hinsicht hat uns die Naturwissenschaft nicht befreit, sondern durch den verkehrten Empirismus, den sie befördert hat, im Fortschritt gehemmt. Wirft man alle Vorurteile von sich, so hat man nicht nur neben, sondern über dem Reich der Natur das Reich der Idealität und ganz unmittelbar. Man braucht es nicht erst zu suchen, es ist sozusagen überall da; Ideen liegen zutage, so weit irgend der Tag klarer Anschauungen reicht. Denn schließlich in jeder Anschauung, auch in der empirischen, können wir Ideen finden, von jeder empirischen Anschauung können wir zur Wesensanschauung, durch Änderung der Einstellung und Schauensrichtung, und zum reinen Denken überhaupt übergehen. Jedes Angeschaute hat ja seinen „Inhalt“, eben den, der in der rein ausdrückenden Beschreibung des Angeschauten zur Aussage kommt. Dieser Inhalt aber, rein gefasst, d.i. in Ideeneinstellung gebracht, ist die Idee, ist das Wesen, das sich in dem empirisch angeschauten Gegenstand „vereinzelt“. Ende der gestrichenen Stelle
Man darf sich hier nicht durch den Einwand täuschen lassen: Ideen seien also nichts weiter als Begriffe. Das sei also des Pudels Kern. Nun ja, dass Begriffe in unserem Denken überall ihre Rolle spielen, das sei eine triviale Sache. Freilich, Ideen, Idealismus, ideales Denken, das hört sich sehr vornehm an. Aber wozu die großen Worte? Wir treiben Wissenschaft. Reden wir nüchtern. Wir antworten: Gewiss sind Ideen Begriffe, wenn das durch Empirismus verdorbene und an sich vieldeutige Wort Begriff, was ja nicht selten der Fall ist, auch so viel wie Idee besagt.
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Wenn wir in einer Abhandlung lesen, die Anzahlenreihe ist eine Reihe von Begriffen, so sind offenbar die Anzahlen selbst, die Ideen, als Begriffe bezeichnet. Wenn man aber kurz darauf in psychologistischer Manier dazu überspringt, Begriffe als psychische Gebilde zu charakterisieren, somit als Realitäten, so zeigt sich darin eben wieder die Verfälschung. Und diese Verfälschung beherrscht eben die psychologistische Literatur. Wer hätte es bis vor kurzem wagen dürfen, den begrifflichen Vorstellungen als psychischen Gebilden logische Begriffe gegenüberzustellen, die nichts von Realität haben, die vielmehr ideale Wesen sind, ohne dass er dem Vorwurf „platonischer Hypostasierung“ unterlegen wäre. Also mit gutem Grund gebrauchen wir nicht das Wort Begriff, sondern mit Platon das Wort Idee. Und wir tun es nicht, weil es die Ansicht noch durchzusetzen gilt, dass unter dem Titel Begriff eben Psychologisches und Ideales (und dabei Ideales in verschiedener Hinsicht) durcheinander gemengt wird und dabei das Ideale als solches, als eigenes und in seiner Eigenartung schlechthin ideales Sein, gar nicht [ge]sehen, daher nicht unterschieden, vielmehr schlechthin weggeleugnet wird.
Gestrichen: Und mit dem Idealen als Gegenstand verkennt man auch die idealen Sachverhalte als Korrelate des idealen Denkens, die Bestandstücke der idealen Sachverhalte, so die in rein unbestimmter Allgemeinheit gedachten unbestimmten Einzelheiten und unbestimmten Allgemeinheiten, also Bildungen wie „ein Rot überhaupt“ als ein einzelnes Rot überhaupt und als das ein Rot überhaupt, wie es im reinen universellen Urteil und gleichwertig mit „jedes Rot“ auftritt, z.B. in dem rein universellen Urteil „Rot überhaupt, Rot als solches ist eine Farbe“. Man verkennt völlig den kardinalen Unterschied zwischen reinem Denken, dessen Korrelate reines Urteil und reiner Sachverhalt sind, und empirischem Denken, dessen Korrelate empirisches Urteil und empirische Sachverhalte sind: ob die Ausdrucksweisen auch ganz identisch lauten. Ende der gestrichenen Stelle
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(Im [1] mathematischen Denken, das ein reines ist, besagt eine Menge, auch eine Anzahl, niemals eine in der Wirklichkeit vorkommende, in irgendeinem individuellen Zusammenhang zu gebende und bestimmende Menge. Die Rede ist zwar von Einzelheiten und nicht von Ideen als Gegenständen, aber es sind unbestimmt allgemeine Einzelheiten, die ganz ausschließlich nur als Einzelheiten gegebener Ideen gedacht und nicht durch eine empirische Mitsetzung, und sei es nur durch die existenziale Einordnung in die Naturwirklichkeit beschränkt sind. Alle Mengen der Welt und irgendeiner als Beziehungssphäre mitgesetzten Wirklichkeit sind nicht alle Mengen überhaupt und in reinem Sinn. Und ebenso hinsichtlich der Anzahlen, der Farben, der Wahrnehmungen, der Gefühle usw. Es ist hier wohl zu beachten, dass Aussagen über Anzahlen als Ideen-Gegenstände, nämlich als Glieder der Ideenreihe, die wir Anzahlenreihe nennen, und Urteile, die sich auf sie, z.B. auf [Zu]ordnung [2] bestimmter Anzahlen zu anderen Anzahlen dieser Reihe beziehen, unterschieden werden müssen von [Urteilen über] Anzahlen als reinen Einzelheiten überhaupt als durch Idee bestimmten, und von Urteilen, die sich als unbestimmt allgemeine auf solche Einzelheiten oder, wie man auch sagen kann, auf den Umfang der betreffenden Ideen beziehen. [3] Hierher gehören alle gewöhnlichen arithmetischen Urteile. Urteile ich „3 liegt zwischen 2 und 4 in der Anzahlenreihe“, so ist das ein anderes Urteil, als wenn ich sage „3 + 3 ist 6“. Hier sage ich „Eine 3 und eine 3 geben summiert eine 6“. Die Idee 3 ist eine und kommt in der Anzahlenreihe nur einmal vor. Aber so geartet ist diese Idee und ist jede Idee überhaupt, dass sie in reinem Denken unbestimmt allgemeine Einzelheiten „unter sich“ hat. Der 3 entspricht „eine 3“ und noch „eine 3“ usw., und so bei jeder Idee. Und das sind nicht bloß empirische Fakta, vielmehr gilt es wieder, dass zu jeder Idee ein reines Denken als Idee gehört, dessen Korrelat ideale Sachverhalte sind, die wesentlich, unaufhebbar zu der Idee gehören, und in ihrer Zugehörigkeit einsichtig erschaut werden können.)
[1] Der von Husserl in Klammern gesetzte Text ist mit einer Null versehen. Er bemerkt dazu: Noch einmal überlesen.
[2] Statt Zuordnung im Ms. Einordnung.
[3] Randbemerkung: Das heißt hier als Mehrheiten überhaupt, die sonst völlig unbestimmt ausschließlich nur als Mehrheiten gedacht sind, die unter den Ideen 2, 3 … stehen.
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Es [1] bedarf jetzt aber einer wesentlichen Erweiterung unserer letzten Darstellungen. Wir haben in den Vordergrund gestellt die Unterscheidung zwischen realer Wirklichkeit und idealer Wirklichkeit. Zur ersteren gehört alles in individueller Einmaligkeit wirklich Seiende. (Dazu ist zunächst Folgendes zu bemerken: Wir dachten unter dem Titel reale Wirklichkeit immer an die Naturwirklichkeit; doch müssen wir es hier offen lassen, ob und in welchem Sinn alles individuelle Sein sich der Einheit der räumlich zeitlichen Naturwirklichkeit einordne. Für unsere jetzigen Zwecke brauchen wir uns in dieser Hinsicht nicht zu entscheiden, und wir wären auch gar nicht vorbereitet dazu. Diese Bemerkung ist im Weiteren wohl zu beachten, wenn wir fortfahren, von realer Wirklichkeit zu sprechen.) Ferner, ad vocem „wirklich“ ist zu sagen: Ein Ding ist wirklich, das sagt, es ist nicht bloß fingiert, es ist nicht in einer Pseudoerfahrung bewusst, in irgendeinem fälschlichen Vermeinen irgendwelcher Art als seiend gesetzt. Gleichwertig damit ist auch: Ein Ding ist wirklich, wenn es als Subjekt einer affirmativen kat[egorischen] Wahrheit fungieren kann. Ebenso ist ein Ideales wirklich, wenn es in einem gültigen seinssetzenden Bewusstsein bewusst ist; wirklich ist die Anzahl 2, nicht aber die durch das operative Gebilde √-2 angezeigte Anzahl. Wirklich ist das geometrische Gebilde regelmäßiges Tetraeder, nicht aber das Gebilde regelmäßiges Dekaeder. Der Geometer sagt: Dergleichen Gebilde (eine Idee) existiert nicht.
In diesem Sinn haben wir also von zweierlei Wirklichkeiten, zweierlei Sphären wirklich seiender Gegenständlichkeiten gesprochen. Demnach ergibt sich hinsichtlich des Denkens und Erkennens zunächst der Unterschied zwischen demjenigen, das auf reale, und demjenigen, das ausschließlich auf ideale Wirklichkeiten abzielt, wobei wir also die Fälle der Mischung dem ersteren zurechnen.
[1] Beginn einer neuen Vorlesungsstunde (Samstag, 11. Mai 1912).
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Indessen, wenn wir von Wesensforschung, z.B. von phänomenologischer Erforschung des Bewusstseins sprechen, so meinen wir nicht allein ein Denken und Erkennen, das auf Ideales in gegenständlicher Einstellung gerichtet ist, das ideale Wirklichkeiten zu Erkenntnissubjekten, zu Gegenständen-worüber macht. Es ist allerdings m.E. ein entscheidender Schritt, dass man sich zunächst einmal die eigene Gegenständlichkeit des Idealen dem Psychologismus gegenüber klar macht. Hinterher sieht man dann aber leicht, dass der Gegensatz zwischen empirischem und reinem Denken, zwischen erfahrungsmäßigem und nicht erfahrungsmäßigem, nicht etwa so viel besagt wie der Gegensatz zwischen Denken, das reale Wirklichkeiten, und Denken, das ideale Wirklichkeiten zu Gegenständen-worüber, zu Denksubjekten macht.
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Jedes urteilende Denken ist Urteilen über etwas, über Gegenstände. Überlegen wir ganz allgemein, in welchen Weisen Urteilen sich auf Gegenstände bezieht. Das hängt davon ab, in welchen Weisen die Urteile durch ihre Bedeutungen bzw. die Bedeutungsvorstellungen eben Gegenstände vorstellig machen, für das Urteil bewusst machen.
Urteile können sich auf Gegenstände vermöge Eigenvorstellungen beziehen. Wir verstehen darunter Vorstellungen, die Gegenstände sozusagen in ihrer Diesheit bestimmt vorstellig machen. Urteile, sofern sie in solchen Vorstellungen gründen, heißen singuläre. Zum Beispiel gehören hierher alle Eigennamenvorstellungen, Napoleon, Göttingen u. dgl. Ebenso deiktische Vorstellungen wie „dies“, nämlich dieser rote Tisch. Auch die Vorstellung „dieser rote Tisch selbst“ gehört hierher. Das alles wären Beispiele von Eigenvorstellungen von realen Gegenständlichkeiten.
Zu den Eigenvorstellungen gehören auch vielerlei Vorstellungen von idealen Gegenständlichkeiten, z.B. „2“, „diese Zahl“ (etwa zurückbezogen auf eine eigenvorgestellte 2) usw. In einem singulären Urteil sind es derartige „Eigenvorstellungen“, welche die Gegenstände-worüber des Urteils anzeigen, und auf ihrer Wirklichkeitssetzung baut sich die Wahrheitssetzung des ganzen Urteils, die Setzung des im Urteil geurteilten Sachverhaltes. Die Eigenvorstellungen geben also ein Wirklichkeitsniveau, das ein Reales ist, wenn Reales vorstellig ist. Das Reale ist dann als Daseiendes gesetzt.
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Die Eigenvorstellung, indem sie den individuellen Gegenstand in seiner Eigenheit vorstellt, stellt ihn notwendig in einer Orientierung zu mir bzw. zu dem aktuellen Orientierungspunkt all meiner individuellen Setzungen, meinem aktuellen Hier und Jetzt vor. Jede Individualsetzung ist Setzung, die anknüpft an das unmittelbare Erfahren hier und jetzt und das unmittelbar miterfahrene Raum- und Zeitschema, den unendlichen raum-zeitlichen Horizont, der sich von hier und jetzt ausstrahlt und in dieser Ausstrahlung seinen Setzungscharakter hat. Sowie ich ein Individuelles als wirklich bewusst habe, habe ich es bewusst als wirklich im Raum, in der Zeit, und zwar dem Raum, der Zeit, die ihren Orientierungspunkt haben im Hier und Jetzt, dem Hier und Jetzt, in dem ich bin und durch welches jedes Individuelle zu mir selbst Orientierung gewinnt. Wir stehen also mit all solchen Urteilen vermöge der eigentümlichen Art ihrer den singulären Vorstellungen anhaftenden Grundsetzungen alsbald in der empirischen Natur, d.i. in der durch den Erfahrungsraum und die Erfahrungszeit schematisch umschriebenen Erfahrungswirklichkeit.
Setzen wir andererseits im singulären idealen Urteilen Ideen, steht uns die 2 als ideal Seiendes da, und urteilen wir etwa „2 steht vor 3 in der Zahlenreihe“, so sind wir als Urteilende zwar dabei und wir haben auch ein beständiges Erfahrungsbewusstsein vom Hier und Jetzt, von dem daran sich orientierenden Raum und der Zeit, aber die reinen Ideen sind gesetzt außer aller Beziehung dazu, haben damit gar nichts zu tun. Der Sinn der reinen idealen Urteile dieser singulären Art und ihre Wahrheit enthält nichts von räumlich-zeitlichem, von individuellem Dasein.
Fürs Zweite, unser Urteilen kann auch auf Gegenständlichkeit bezogen sein durch unbestimmt allgemeine Vorstellungen, durch Bedeutungen und Denkvorstellungen, die nicht Eigenvorstellungen sind, sondern logische Form haben: „ein A“, „einige A“ u. dgl. Da tritt das merkwürdige „etwas“, „ein“ auf, und zwar bald für sich, bald
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mit Attributionen versehen, z.B. ein Franzose, eine Zahl, eine Figur, oder Franzosen (in unbestimmter Pluralität), einige Zahlen usw. Treten neben diesen unbestimmt allgemeinen Vorstellungen noch singuläre auf, wie wenn wir z.B. urteilen „Ein Haus in der Weenderstraße ist das Universitätsgebäude“, so sind wir durch die singulären [Vorstellungen] an ein reales oder ideales Wirklichkeitsniveau gebunden. Den Fall wollen wir ausschließen. Haben wir in unseren Urteilen ausschließlich unbestimmt allgemeine Vorstellungen, so ergeben sich zwei wesentlich verschiedene Urteilsklassen, je nachdem die unbestimmt gedachten Gegenständlichkeiten durch materiale Merkmale attributiv gedacht, begriffen sind oder durch bloß formale Attributionen. Also einerseits treten Vorstellungen auf wie ein Haus, eine Farbe, eine Figur, auf der anderen Seite ein Gegenstand, ein irgend beschaffener Gegenstand, ein Sachverhalt, auch zwei Gegenstände, mehrere Gegenstände usw.
Danach ist das unbestimmt allgemeine Denken ein materiales oder bloß formales. Das bloß formale ist dadurch charakterisiert, dass es in allgemeinster Allgemeinheit von Gegenständen überhaupt spricht und diese Gegenstände ohne jeden Sukkurs von Eigenvorstellungen nur durch Attributionen charakterisiert denkt, die zur Idee der Gegenständlichkeit überhaupt, möge sie ideal oder real, möge sie wie immer material bestimmte sein, gehören. Ein solcher Begriff ist z.B. Beschaffenheit, Relation u. dgl. Denn ein Gegenstand ist nicht denkbar ohne Beschaffenheit. Zu einem Gegenstand als solchem ist ein zweiter denkbar, also gehört die Idee 2 [hier]her, und jeder Gegenstand ist mit anderen in Relation zu setzen usw.
Jeder rein arithmetische, jeder rein logische Satz baut sich aus bloß formalen Begriffen auf; jeder physikalische, jeder geometrischen Satz aus nicht bloß formalen Begriffen.
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Fragen wir nun, wie diese Urteilssphäre zur erstbehandelten steht, so bemerken wir zunächst, dass jedem formalen und materialen Begriff, der überhaupt ein möglicher ist, d.i. keine Unverträglichkeit einschließt, eine Idee entspricht. Diese ist, wie jeder Gegenstand, durch eine Eigenvorstellung vorstellbar, kann also in ein singuläres ideal[es] Urteilen eintreten. So urteilen wir ja über Anzahlen als Ideen, über die Ideen Gegenstand, Beschaffenheit, Relation, Verbindung, Ganzes usw., auch über die Ideen Farbe, Ton, Ding, Raumkörper usw.
Andererseits [1] urteilen wir aber, wenn wir über „ein Ding“ oder „mehrere Dinge“ oder „alle Dinge überhaupt“ oder wieder wenn wir „eine Relation“ oder „Relationen überhaupt“, über „eine Gestalt“, über eine Figur oder Figuren überhaupt urteilen usw., nicht über Ideen, sondern über Einzelheiten, die durch Prädikate begriffen sind [und] die unter den betreffenden Ideen stehen. Diese Urteile sind nun von zweierlei Art. Entweder die unbestimmt allgemein gedachten Einzelheiten materialer oder formaler Ideen sind empirisch gesetzt, oder sie sind in reiner Allgemeinheit gesetzt. Im letzteren Fall haben wir ein allgemeines, näher ein partikuläres oder universelles Urteilen, das rein ideal ist und doch keine Ideen als Gegenstände-worüber enthält oder mindestens enthalten muss. Im ersteren Fall aber haben wir partikulär oder universell empirische Urteile. [2]
Zunächst Folgendes: Man darf sich durch die Äquivokation der bekannten Formen partikulärer und universeller Rede nicht täuschen lassen und darf nicht übersehen, dass empirisches und reines Urteilen grundverschieden ist, wenn es auch in den gleichen Formen zum Ausdruck kommt. Urteilen wir, alle Körper sind schwer, so ist das, im normalen Sinn verstanden, ein empirisches Urteil.
[2] Randbemerkung: Cf. Ergänzungsblatt 3 [= Hua III/2, 521,43- 523,17]
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Das sagt, es ist der universelle Sachverhalt sozusagen in die Erfahrungswirklichkeit hineingesetzt, es ist eine allgemeine Tatsache der räumlich-zeitlichen Wirklichkeit ausgedrückt. Hier finden wir zwar keine Eigenvorstellungen von individuellem Sein und keine durch sie hindurchgehende Setzung, die, wie wir gehört haben, das bestimmt in seiner Diesheit Gedachte individuell in einer gewissen Orientierung zum erfahrenen Grundpunkt der Orientierung, zum erfahrenen Hier und Jetzt setzt.
Und doch ist hier ein Wirklichkeitsniveau mitgesetzt, und zwar eben das Raum-Zeit-Schema irgend erfüllt in seiner Erfahrungsaktualität und Erfahrungssetzung um das Hier und Jetzt herum. „Alle Körper“, das sagt offenbar: ein Körper überhaupt, der entweder jetzt ist oder früher war oder jemals sein wird, und wieder ein Körper, der überhaupt irgendwo jetzt im Raum ist oder im Raum war oder je im Raum sein wird. Es braucht dabei in unserem Urteil gar nicht die Existenz von Körpern gesetzt zu sein als eine mit [dem] Satzglied „alle Körper“ vollzogene Urteilsthesis.
Diese Setzung braucht nicht in den Sinn des Urteils hineinzugehören. Aber es ist das Erfahrungsschema gesetzt und mit irgendeinem originären Inhalt natürlich der Raum und die Zeit und irgendein Stück erfahrener Raum-Zeit-Gegenständlichkeit, und nicht als Idee, sondern als das aktuelle, zum aktuellen hic et nunc gehörige Raum-Zeit-Schema und [als] Natur. Das unbestimmt-allgemein Gedachte (in unserem Beispiel ein Körper überhaupt) ist als darin seiend gedacht, und nun ist geurteilt, dass in universeller Allgemeinheit von irgendeinem Körper darin gilt, dass er schwer ist.
Dass dasselbe von den partikulären Urteilen mit Unbestimmten gilt wie „Manche Sterne sind selbstleuchtend, manche nicht“, ist selbstverständlich. Die größere Versuchung der Missdeutung besteht bei den universellen [Urteilen] . Sie besteht, weil es scheinbar etwas Gleichstehendes ist, wenn wir sagen „Jeder Körper ist ausgedehnt“. Aber hier fällen wir, obschon auf Reales gerichtet, ein Wesensurteil, hier sprechen wir kein Naturgesetz aus, keine allgemeine auf den Erfahrungsraum und die Erfahrungszeit bezogene Tatsächlichkeit, sondern idealiter gilt, dass ein Körper seinem Wesen nach nicht anders denn als ausgedehnter, beweglicher, wirkender und leidender etc. gedacht werden kann.
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Während die einen Urteile empirische, naturwissenschaftliche sind, sind die anderen eben Wesensurteile, apriorische Urteile. Sie gehören in eine apriorische Ontologie der Natur. Auch hier operieren wir mit unbestimmt allgemeinen Körpervorstellungen, und auch diese können nicht anders denn in Raum und Zeit gedacht werden. Die Beziehung auf ein Orientierungsschema ist auch zu ihnen wesentlich gehörig, wie das eben die Wesensanalyse herausstellt.
Aber darin liegt der gewaltige Unterschied, dass beim empirischen Urteil das aktuell erfahrene Hier und Jetzt und der aktuelle Erfahrungsraum und die Erfahrungszeit mit einem unmittelbaren Erfahrungsinhalt zur Mitsetzung kommt und als begrifflich ungefasstes Wirklichkeitsniveau fungiert, während im anderen Fall dafür der bloße Gedanke, die bloße Vorstellung eines Hier und Jetzt, die bloße Vorstellung eines Raumes und einer Zeit den Untergrund bildet, obschon wieder ohne begriffliche Fassung. Stelle ich mir, um Einsicht zu gewinnen, in Klarheit einen Körper vor, so ist er Körper in einem Raum und notwendig erscheint er in gewisser Orientierung, die zurückweist auf den Orientierungsnullpunkt. Aber der Körper ist nicht als Individuelles gesetzt. Und es ist auch das Raumschema nicht gesetzt. Um so gesetzt zu werden, müsste es notwendig in Verbindung treten mit meinem aktuellen Hier und Jetzt, das ich erfahre.
Das wird evident, wenn Sie an eine Erinnerung denken und das Erinnerungsgegebene. Es schwebt phantasiemäßig vor, und doch ist es nicht bloß Phantasie. Das Vorschwebende ist gesetzt, und sofort hat es Beziehung zur lebendigen Erfahrung, dem lebendigen Jetzt, in dem ich stehe, und dem lebendigen Hier. Das Erinnerte ist „vergangenen“, d.i., es ist ein vor meinem erfahrenen Jetzt zeitlich Gewesenes. Sowie wir diese Beziehung durchschneiden, haben wir eine bloße Phantasie, und das bloß Phantasierte (in sich und getrennt von aller empirischen Setzung) hat keine Zeitbeziehung wie keine Raumbeziehung zur Aktualität. Sein Raum ist fingierter Raum, seine Zeit fingierte Zeit. Im Übergang zur rein idealen Einstellung habe ich also Idee Raum, Idee Zeit, Idee von Körper in Raum und Zeit.
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Bei reinem Denken über Reales sind wir uns also der betreffenden bloßen Vorstellungen, ja gewissermaßen der Ideen bewusst, so wie wir bei empirischem Denken über Reales der Erfahrungswirklichkeit bewusst sind. Das Wirklichkeitsniveau ist beiderseits und auch im partikulär und universellen Denken vorhanden, aber es ist nicht Gegenstand-worüber, es ist nicht denkmäßig ausgedrückt, es ist das Glaubensniveau, auf dem die Gegenstände-worüber gesetzt sind.
Sie verstehen nun wohl völlig den Unterschied des reinen Denkens, das Ideen zu Gegenständen macht, und reinem Denken, das auf Einzelheiten von Ideen als solchen gerichtet ist. Zum Beispiel bei reinem Denken über Realität als solche, in welchem wir beurteilen, was zum Wesen von Raum und Zeit, von Raumgestalten und Zeitgestalten, von materieller Dinglichkeit, von Kausalität und Kraft usw. gehört, sind wir uns immerfort der allgemeinen Ideen bewusst, unser ganzer Boden ist [ein] idealer, und er reicht sehr viel weiter als die Sphäre des Ausdrückens und Begreifens. Aber es sind nicht die bestimmten Ideen gegenständlich im Sinn von Gegenständen-worüber.
Und es verhält sich ebenso im formalen Denken der Arithmetik und Mannigfaltigkeitslehre. Es kommt im arithmetischen Denken zwar gelegentlich vor, dass Ideen selbst zu Gegenständen-worüber werden; zumeist aber ist es so, dass das Urteilen zwar auf idealem Boden sich bewegt, aber gerichtet ist auf unbestimmte Einzelheiten, und zwar rein gedacht als ideale Einzelheiten. Zum Beispiel, wenn wir eine Zahlformel aussprechen wie „2 + 2 = 4“, so heißt das: „Eine 2 und eine 2 (eine andere) geben summiert eine 4.“ Wir urteilen nicht über die Ideen, denn die eine 2 und die andere 2 sind eben zwei verschiedene 2en, die Idee 2 ist aber eine. Die 2en sind in ihrem Denken gedachte Einzelheiten der einen Idee.
Durch diese Betrachtungen eröffnet sich uns sogleich die Aussicht auf wichtige, hier nicht weiter zu verfolgende Unterscheidungen bzw. Forschungsrichtungen. Wir haben fürs Erste die fundamentale Unterscheidung zwischen den vér[ités] d[e] fait
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und den vér[ités] de r[aison] uns zu einem tieferen Verständnis gebracht. Wir haben danach die eine große Klasse von Urteilen bzw. Wahrheiten und Wissenschaften, die auf die faktische Wirklichkeit gehen. Der Blick, den wir hierbei auf das Wesen dieser Faktizität geworfen haben, zeigt sie als etwas a priori zum Urteilenden und Vorstellenden und den zu ihm gehörigen Orientierungspunkt Gehöriges und ihn wiederum als zu ihr Gehöriges. Die notwendige Relativität der Natur zum erfahrenden Bewusstsein und seinem Orientierungsschema ist ein Grundpunkt der Metaphysik der Natur, aber ein kaum in seinem wahren Sinn erschauter und verstandener. Demgegenüber haben wir die andere große Klasse von Urteilen, Wahrheiten, Wissenschaften, die auf die ideale Wirklichkeit gehen bzw. auf Seiendes überhaupt, sofern es unter Ideen steht und in reiner Idealität. Hier ist ein Boden absolut irrelativer Wahrheit, hier ist alle empirische Ich-Setzung, Hier- und Jetzt-Setzung ausgeschaltet. Ich und Raum und Zeit und Natur usw., all das tritt hier nur als Idee auf und absolut.
Fürs Zweite: Unsere Betrachtungen machen nun aber auch sichtlich, dass sich die Domänen rein eidetischer Erkenntnis in geschlossene Gebiete ordnen müssen. Da ist zunächst die völlig eigene und geschlossene Domäne der formalen Eidetik: die Sphäre des rein „eidetischen“ Denkens in einem gewissen prägnanten Sinn. Dahin gehören die sämtlichen Disziplinen der mathesis universalis, darunter die Hauptkerne der traditionellen Logik, soweit sie rein ist, die Logik der prädikativen Aussage, der Apoph[ansis], ferner alle formal-mathematischen Disziplinen, unter denen jedem Nicht-Mathematiker mindest die reine Arithmetik als reine Anzahlen- und Ordinalzahlenlehre bekannt ist. Die philosophische Aufgabe wäre hier, a priori die Gliederung dieser Domänen in formale Kategorien und dementsprechend die natürliche Gliederung der Mathesis in mathematische Disziplinen aufzufinden. Tun wir diese Domänen ab, so bleibt das große Gebiet der nicht-formalen Ideen, der Ideen, die sozusagen Kerngehalt haben, die nicht leere Hülsen sind, sondern Füllen.
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In [1] Bezug auf dieses unendliche Gebiet materialer, kerniger Ideen bestände dann die Aufgabe, die grundwesentlichen regionalen Teilungen aufzusuchen und mit Beziehung darauf eine „natürliche“, das heißt hier, aus umfassendsten prinzipiellen Gründen vollzogene Scheidung der a priori überhaupt möglichen konkreten (individuellen) Gegenständlichkeiten zu gewinnen.
Für den, der das Eigenrecht des Eidetischen, der die allumfassende Bedeutung eidetischer Forschungsweise erkannt hat, ist es ohne weiteres klar, dass jeder konkreten individuellen Gegenständlichkeit eine Idee entspricht, dass jede Idee individuellen und konkreten Seins sich unter allgemeinere Ideen ordnet, wie ja überhaupt zum Wesen der Idee Allgemeinheit und Allgemeinheit höherer und niederer Stufe gehört.
Nehmen wir, von einer konkreten empirischen Gegenständlichkeit ausgehend, ihren vollen Inhalt, in der ganzen Fülle der Konkretion unter Ausschluss der empirischen Wirklichkeitssetzung, als Faktizität des wirklichen Daseins, so gewinnen wir eine Idee niederster Stufe, eine konkrete Idee, die sich nach den unselbständigen Komponenten des Inhalts wieder aus Ideen, aber aus abstrakten aufbaut. So z.B. wenn wir ein Raumding in seiner ganzen konkreten Fülle nehmen, aber nicht als Tatsache, sondern als Idee, die sich in diesem faktischen Ding bloß empirisch vereinzelt; und demgegenüber die Ideen seiner verschiedenen konstituierenden Eigenschaften. Es ist weiter klar, dass jedem gültigem[??] Gattungsbegriff, der allgemeiner Begriff nicht ist für bloße Eigenschaften und überhaupt unselbständige Momente, sondern für volle Konkretionen, wieder eine Idee entspricht, und endlich, dass wir von jedem Konkretum aus zu einer obersten Gattungsidee kommen, die über alle solche Gattungsbildungen insofern hinausreicht, als sie den idealen Typus, eine feste Grundform, als Idee fasst, innerhalb
[1] Wohl Beginn einer neuen Vorlesungsstunde (Samstag, 18. Mai 1912).
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dessen all solche uns entgegentretenden (ja, alle irgend möglichen) Gattungsbildungen, Gattungen von Concretis, a priori verlaufen. Ein solcher Begriff ist der Begriff des materiellen Dinges und wiederum der Begriff des Tieres, des ζῷον, des beseelten Lebewesens (und ich würde geradezu sagen: des organischen Wesens, wenn ich nicht den Streit ausschließen wollte, ob etwa Pflanzen bloß unbeseelte Maschinen sind). Diesen Begriffen, die offenbar ihre besondere Art der Allgemeinheit haben, entsprechen oberste Ideen, welche eventuell in reinem Denken noch verallgemeinert und dann wieder in reinen Artungen besondert werden können, unabhängig davon, ob in der Empirie faktisch empirische Fälle ihnen entsprechen. Es ist offenbar, dass jedem gewonnenen obersten Idealbegriff, jedem regionalen, wie ich zu sagen pflege, eine einheitlich geschlossene Eidetik entspricht, eine apriorische Ontologie, die all das erforscht, was zum Wesen so gearteter, durch die regionale Idee umgrenzter Gegenständlichkeiten als solcher gehört. Die große Aufgabe ist dabei natürlich, all die konstitutiven Ideen herauszuarbeiten, die a priori in der regionalen Idee beschlossen, das allgemeine begriffliche Gerüst ausmachen, an das jede Bestimmung von Gegenständlichkeiten der Region absolut gebunden ist; und weiter, die apriorischen Gesetze zu formulieren, zunächst die Grundgesetze, in denen diese Begriffe die bestimmende Rolle spielen. Es handelt sich dabei also [darum] , zu umgrenzen, ohne was eine Gegenständlichkeit der betreffenden Region schlechthin nicht gedacht werden kann, also schlechthin nicht sein kann. Solche konstitutiven Begriffe sind hinsichtlich des materiellen Dinges die zu den Titeln Raum und Zeit gehörigen Begriffe, also die geometrischen, chronometrischen und phoronometrischen. Und damit sind zugleich Titel für apriorische Axiome und reine Disziplinen angegeben. Ebenso der Begriff der Materie und die sich um diesen gruppierenden Begriffe: reale Eigenschaft, Ursache, Wirkung, reale Veränderung, realer Zustand und Zustandsänderung usw. Die apriorische Disziplin, in der auf dem Grund der vorgenannten Disziplinen
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das reine Wesen der materiellen Natur Dinglichkeit als materieller erforscht wird (und alles, ohne was sie sein Fall nicht sein kann), ist keine andere, als die Kant unter dem Titel reine Naturwissenschaft im Auge hatte. Selbstverständlich gibt jeder hierher gehörige Begriff und Satz als zum Wesen von materieller Erfahrungsgegenständlichkeit überhaupt gehörig „Bedingungen der Möglichkeit solcher Gegenständlichkeit“, also auch Bedingungen der Möglichkeit dafür, dass eine prätendierte Erfahrung eine gültige sein kann. Wir sprechen in dieser Hinsicht von Kategorien und kategorialen Gesetzen der Region physische Gegenständlichkeit. Ähnliches wäre also überall für alle Gegenständlichkeitssphären zu leisten; ja vorhergeht noch die Aufgabe, die regionalen Ideen selbst, die die kardinalen Scheidungen von solchen Sphären bestimmen, a priori systematisch herauszustellen, um dann erst die zugehörigen eidetischen Disziplinen auszubauen. In gewisser Weise gewinnen also die eidetischen Disziplinen selbst oberste Einheit in einer obersten Eidetik, die als Systematik der Regionen und Kategorien dieser Regionen (Kategorienlehre) das Reich möglicher Gegenständlichkeiten und, was damit korrelativ zusammenhängt, das Ideenreich selbst systematisch und a priori gliedert und eben damit das System der möglichen und nun auszuführenden eidetischen Disziplinen entwirft.
F I 16/38a "18"
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Diese weiten Ausblicke zeigen uns den ungeheuren Horizont rein eidetischer Forschung, die in ihrer Reinheit völlig getrennt ist von der Erfahrungsforschung, so wie reine Idee getrennt ist von Erfahrungsgegenständlichkeit oder Natur im allerweitesten Sinn. Aber diese Trennung besagt für die Idee, Ideenwelt, Ideenwissenschaft und für Reales, Natur, Naturwissenschaft nicht Beziehungslosigkeit. Wenn Platon der Ideenwelt ein reines Sein im τόπος ὑπερουράνιος beimaß, so sprach er doch von der Methex[is] , vermöge deren alles und jedes Sein dieser empirischen Welt notwendig Beziehung zur Idee und damit auch, wie wir hinzufügen müssen, zu den entsprechenden idealen Wissenschaften haben muss. Diese Beziehung ist aber eine solche, dass sie vom Standpunkt der Erkenntnis und Wissenschaftsbegründung den eidetischen Wissenschaften einen ganz besonderen und höheren Rang einräumt. In den eidetischen Wissenschaften, insbesondere in den bezeichneten konstitutiven Ontologien (den aprior[ischen] ), liegen in gewisser Weise die reinen Prinzipien für die Ermöglichung aller Erfahrungswissenschaften. Mit Beziehung auf die philosophischen Kämpfe unserer Zeit und insbesondere zwischen empirischer und phänomenologischer Begründung der Erkenntnis möchte ich hier Folgendes hervorheben. Jede empirische Forschung bedarf, wenn sie zur Stufe nomologischer Wissenschaft erhoben werden soll, der ihr entsprechenden Ontologien, nämlich der Ontologien derjenigen Gegenständlichkeiten, die in dieser empirischen Forschung und empirischen Wissenschaft im Rahmen der realen Wirklichkeit festgestellt und erforscht sind. Machen wir uns das etwa in der Sphäre der Natur im engeren Sinn klar.
F I 16/38b "18"
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Gestrichen: In Bezug auf dieses weite Gebiet wären dann die wesentlichen regionalen Teilungen aufzusuchen, und mit Beziehung darauf [wäre] die „natürliche“ Scheidung der a priori möglichen Gegenständlichkeiten überhaupt nach obersten, grundwesentlichen Gegenständlichkeitsregionen und der Regionen wieder nach den sie bestimmenden Kategorien zu erforschen. Von vornherein klar ist, dass jeder Gegenstand, und zwar jeder konkrete Gegenstand, unter Gegenstandsartungen und -gattungen (und zwar Artungen und Gattungen von konkreten Gegenständlichkeiten überhaupt) steht, die, zur Sphäre reiner Idealität erhoben, von aller Erfahrungsbeziehung befreit werden können. Und ebenso klar ist, dass wir zu obersten Gattungen von Konkretionen kommen müssen, die regionale Grundbegriffe für ideale Disziplinen abzugeben haben. Jede regionale Idee hat dann ihre Konstituentien, ihre primitiven und grundwesentlichen Prädikabilien; das wären die Kategorien der betreffenden Gegenstandsregion. So wäre etwa Naturobjekt (materieller Körper) ein regionaler Grundbegriff (die Idee einer Region), und räumliche Ausdehnung, Dauer, Materialität usw. wären Kategorien: wobei aber noch mancherlei Unterscheidungen zu machen wären und nicht etwa alle diese ideal-wesentlichen Seiten der regionalen Gegenständlichkeit einander gleichstehen müssen. Aber das ist Sache der Forschungen einer regionalen und kategorialen Eidetik, die in gewissem Sinn die oberste der eidetischen Disziplinen ist. Doch diesen Ausblicken können wir nicht nachgehen. Worauf es uns hier nur ankommt, ist dies, dass sich in der Tat die behauptete Universalität der eidetischen Forschung völlig klar herausstellt. Ende der gestrichenen Stelle
F I 16/39a "19"
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Die Erforschung der Natur und Naturgesetzlichkeit, wie sie als Erfahrungsfaktum ist, muss wesentlich abhängig sein von der Idee der Natur und der reinen Gesetzlichkeit, die zu dieser Idee gehört. „Idee der Natur“ (kantisch zu reden: mögliche Natur überhaupt) ist zwar in reinem Denken an sich zu erforschen und ist als reine Idee nichts in der empirischen Natur. Andererseits ist diese faktische Natur eben doch Vereinzelung der Idee und untersteht eo ipso den idealen Gesetzen. Und des Weiteren ist es klar, dass reine Gesetze und Naturgesetze im gewöhnlichen Sinn nicht beziehungslos nebeneinanderliegen, also z.B. geometrische oder reine mechanische Gesetze und die Naturgesetze im gewöhnlichen Sinn, wie Gravitationsgesetz, optische Gesetze usw. Wo uns die gegebene Natur, in theoretischer Erfahrung studiert, vernünftige Motive an die Hand gibt, empirische Naturgesetze anzunehmen, da wissen wir, dass die gegebene Natur neben den rein eidetischen Naturgesetzen, die sie als Natur überhaupt bestimmen, auch diesen besonderen Bestimmungen unterliegt. Gelten sie aber zugleich für ein und dasselbe, so werden sich in unzähligen Fällen Möglichkeiten für Schlussfolgerungen ergeben, d.h., es werden vermöge der eidetischen Prinzipien und Theorien in dieser Verflechtung neue Erfahrungsgesetze zu deduktiver Ableitung kommen und verschiedene empirische Regeln werden auch durch Rückbeziehung auf den gesamten idealen fond theoretische Einheit gewinnen können.
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Es ist also von vornherein klar, dass die Ausbildung und beständige Hineinziehung der reinen Ontologie der Natur ein Hauptstück in der Methodik aller nomologischen Naturforschung bilden und so etwas wie Systeme theoretischer Physik dadurch allererst möglich werden.
Man sieht, dass das Argument noch etwas weiter trägt, als wir eigentlich im Auge hatten. Gibt es eine analytisch-formale Ontologie, eine formale Mathesis mit umfassenden und fruchtbaren Disziplinen (reine Zahlenlehre, Analysis, Mannigfaltigkeitslehre etc.), so kommt für diese Funktion der Ermöglichung fruchtbarer nomologischer Naturforschung auch sie und sie zuallererst in Betracht. Nur dass diese formale Mathesis keine besondere Affinität hat zu irgendeiner besonderen Region, z.B. der der materiellen Natur, sondern in der besprochenen Funktion Gemeingut ist für alle empirischen Disziplinen überhaupt. Sie ist ein apriorischer Wahrheitsfond, auf den sie alle und überall zurückgreifen, aus dem sie beständig frei schöpfen können, ungleich den materialen Ontologien, wie z.B. die Wesenslehre der materiellen Natur überhaupt, die eben nur für empirische Disziplinen als methodisches Instrument und als hilfreiche Wahrheitsquelle fungieren kann, die eben materielle Natur erforschen.
Da übrigens die analytische Ontologie das zum Wesen von Gegenständlichkeit überhaupt in reiner und freier Allgemeinheit Gehörige behandelt, so hat sie offenbar dieselbe Stellung wie zu allen empirischen Disziplinen auch zu allen apriorischen Disziplinen, also zu allen regionalen Ontologien und schließlich auch zu sich selbst: Sie ist auf sich selbst zurückgezogen.
F I 16/40a "20"
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Freilich, dass sie eine geradezu überwältigende Rolle in den zu den Ideen Raum und Zeit gehörigen eidetischen Disziplinen spielt (Geometrie, Mechanik, Phoronomie, Chronologie), z.B. dass jenes merkwürdige Ineinander von Analysis und Geometrie herrscht, bei dem es gelegentlich erscheint, als würde das spezifisch Geometrische durch das Formale reiner Analysis verschlungen, das hat seine besonderen Gründe im eigenen Wesen von Raum und Zeit als Ordnungsformen, und darin, dass die Eidetik dieser besonderen materialbestimmten Ordnungsformen selbstverständlich durchaus sich unterordnet der Eidetik der Ordnungsformen überhaupt, die ein Hauptstück der analytischen Ontologie ist. Das trägt dann entsprechende Konsequenzen für die Wesenserforschung der materiellen Natur, vermöge der Art, wie Materialität räumlich-zeitliche Materialität ist und das natürlich a priori.
F I 16/41a "21"
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Die [1] allgemeine Charakteristik der Bedeutung rein eidetischer Wissenschaft für die Ermöglichung exakter Erfahrungswissenschaft bewährt sich im Hinblick auf die Entwicklung der neuzeitlichen physischen Naturwissenschaft. Wie haben sie die Stufe der exakten nomologischen Wissenschaft erklommen und ihre beispiellosen theoretischen Siege erfochten? Gewiss, das war ein Erstes und Grundwichtiges, dass sie Naturerkenntnis auf dem Grund der Erfahrung und nicht der Autorität suchte. Aber damit tat sie nur, was das Altertum längst getan hatte. Das Altertum hatte ja keine Autoritäten hinter sich. Wenn es auch zu Anfang über die Natur gar zu sehr von oben her spekulierte, wenn es sich mit der naiven erfahrungsmäßigen Kunde als Unterlage begnügte, die als Niederschlag des naiven Kulturlebens der Menschheit im allgemeinen Bewusstsein verbreitet war, wenn es von da und in wenigen Schritten unmethodischer Verallgemeinerung sogleich zu Theorien der Weltauffassung fortschritt, so hat doch schon das Altertum solche Fehler in erheblichem Maß verbessert und die Bahnen wissenschaftlicher Erfahrung eingeschlagen und es zur Ausbildung bedeutender Stücke wirklicher Naturerfahrung gebracht. Naturwissenschaft setzt als unterstes Fundament theoretische Erfahrung voraus, d.i. konkrete Erfahrung in rein theoretischer Erkenntnisabsicht vollzogen. Im naiven Dahinleben ist der Mensch durchaus von praktischen Interessen beherrscht, er ist nicht darauf gerichtet, festzustellen, wie die erfahrenen Dinge an und für sich „selbst“ sind, was aus ihrer Erfahrungsgegebenheit als ihr wahres Sein und Sosein herauszuerkennen ist;
[1] Wohl Beginn einer neuen Vorlesungsstunde (Mittwoch, 22. Mai 1912).
F I 16/41b "21"
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sondern sie sind für ihn, was sie für ihn bedeuten, in Freude und Leid, in Hoffnung und Furcht, wie er sich zu ihnen zu stellen hat, wie er ihnen widerstehen, sie für sich gewinnen, sie regieren kann, wie er sie seinen religiösen, ästhetischen, Nützlichkeitsinteressen gemäß umgestalten, aus ihnen Zweckgebilde erzeugen kann – das sind in seiner naiven Einstellung die beständigen Fragen, die er an die Dinge richtet, und der Sinn dieser Fragen bestimmt, was die erfahrenen Dinge für ihn sind. Also der Mensch erfährt zwar immerfort, aber dieses naive Erfahren ist nicht der „theoretische“ auf Feststellung wahrhaften Seins und Soseins gerichtete Akt, dessen es für die Begründung der Wissenschaft bedarf. [1] Schon das Altertum ist sich dieses wesentlichen Unterschiedes bewusst geworden und hat nicht nur vorübergehend und vereinzelt, sondern den systematischen Zusammenhängen des erfahrbaren Seins nachgehend umfassende und theoretisch wertvolle Erfahrungserkenntnis vollzogen. Aber exakte nomologische Wissenschaft hatte es nicht, oder vielmehr nur in kleinen, erst in der Zeit der Renaissance zu vollbewusster Entwicklung kommenden Ansätzen. Und in der Tat, einer gewissen vollbewussten Entwicklung bedurfte es, um eine „exakte“ nomologische Naturlehre, eine mathematische Naturwissenschaft („theoretische Physik“) zu begründen und mittels ihrer die Gegebenheiten der auf bloß theoretischer Erfahrung beruhenden „deskriptiven“ Disziplinen nomologisch zu „erklären“.
[1] Randbemerkung: Theoretisches Erfahren.
F I 16/42a "22-24"
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Fragen wir, was über Erfahrung und Induktion hinaus dazutreten musste, so werden wir auf die Heranziehung und die großartige Ausgestaltung der reinen Mathematik aufmerksam; einerseits der Geometrie, Phoronomie und reinen Mechanik und andererseits, mit all diesen Disziplinen sich verflechtend und sie alle methodisch durchdringend, die Algebra, die Infinitesimalrechnung, kurz die formale Mathesis mit ihren immer neuen Disziplinen. Die beherrschende Rolle, welche die reine Mathematik in der Physik der Neuzeit oder, wie wir philosophisch zutreffender sagen, in der abstrakt-nomologischen Naturwissenschaft der Neuzeit spielt, liegt zutage. Dass diese sämtlichen rein mathematischen Disziplinen rein rational sind, dass sie nicht auf Erfahrung beruhen, sondern a priori ihre Einsichten gewinnen, darüber war man sich zu Beginn der Neuzeit übrigens klar, wie wenig man auch den Sinn der Aprior[ität] erkenntnistheoretisch zu verstehen und die Grenzen der Rationalität abzustecken vermochte. In dieser letzteren Hinsicht bestehen übrigens auch heutzutage noch ungelöste Schwierigkeiten genug, und zwar betreffen sie die Mechanik, die nie als völlig reine Mechanik und getrennt von der empirischen behandelt worden ist. Es ist daher nicht klar, wie weit in der Mechanik das Apriori reicht, wo in ihr die Grenzen zwischen reiner Eidet[ik] materieller Körperlichkeit und empirisch bestimmter Lehre von Massen und bewegenden Kräften liegen, m.a.W. die Grenzen zwischen reiner Mathematik der materiellen Körperlichkeit und eigentlicher Physik, Erfahrungswissenschaft von derselben. Aber sicher ist, dass ein wesentlicher Teil der mechanischen Grundeinsichten wirklich a priori ist. Also jedenfalls dürfen wir sagen, dass der Hinweis auf die Entwicklung der neueren Naturwissenschaft unsere allgemeine Ausführung bestätigt.
F I 16/42b "22-24"
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Wir dürfen sagen: Entscheidend war für die Erhebung konkreter und bloß beobachtender und beschreibender Naturwissenschaft zur Stufe der nomologischen Theorie der Umstand, dass die Idee materieller Körperlichkeit überhaupt zu reiner und einsichtiger Fixierung und nach den in ihr liegenden konstitutiven Ideen und Theorien zu ideenwissenschaftlicher Entfaltung kam. Die so entsprungenen Disziplinen sind nichts anderes als die bekannten mathematischen Disziplinen. Ist Naturwissenschaft Wissenschaft von der materiellen Natur, also von der faktischen materiellen Wirklichkeit, die uns unmittelbar durch theoretische Erfahrung gegeben ist, und ist es andererseits wahr, dass materielle Wirklichkeit als solche, als reine Idee gefasst und erforscht, eine Fülle rein eidetischer Erkenntnisse, ja ganze Disziplinen in sich birgt, dann ist es doch, gemäß unserer allgemeinen Betrachtung, von vornherein selbstverständlich, dass diese Disziplinen grundlegend für die Erforschung faktischer Natur sein müssen. Das empirische Faktum, das „zufällige“, ist überall an einen Rahmen der Notwendigkeit, eben an seine Idee und was in ihr wesenhaft beschlossen ist, gebunden. 1) Zum Wesen materieller Körperlichkeit als solcher gehört fürs Erste, dass sie zeitliche Wirklichkeit ist. Selbstverständlich gehört alles, was die Idee von Zeit und zeitlichem Sein als solchem in sich birgt, so rein es für sich erforschbar und so rein es in sich von aller Empirie ist, doch notwendig mit zur empirischen Naturforschung: als ein idealer Grundstock von Erkenntnissen, die sie nicht verletzen darf, die sie überall als absolute Wahrheit anwenden darf und muss.
F I 16/43a "25"
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Jede hierhergehörige Wahrheit ist Bedingung der Möglichkeit faktischen materiellen Seins, sofern es eben wesentlich auch zeitliches Sein ist. Fürs 2te): Jedes Naturobjekt ist res extensa, ist Körper im Raum. Also ist im gleichen Sinn die ganze Eidetik der Räumlichkeit und der in ihrem Wesen vorgezeichneten Gestaltungen, mit einem Wort die Geometrie, grundlegend für die empirische Naturwissenschaft und dann ebenso, wenn wir Raum und Zeit in eins setzen, die reine Phoronomie. Und endlich 3): Seinem Wesen nach ist ein Naturobjekt nicht nur überhaupt räumlich-zeitlich Seiendes, sondern auch materiell Seiendes, es ist nicht substanzloses Scheinding, sondern substanzieller Körper, als solcher notwendig Träger von substanziellen Unveränderungen und Veränderungen, die notwendig unter Kausalität stehen; denn Substanzialität ohne Kausalität ist eidetisch ein Nonsens. Und so ergibt sich die von Kant als „reine Naturwissenschaft“ bezeichnete Disziplin, wir könnten (wenn auch ungebräuchlich) sagen die Mathesis der Materialität als apriorisches Fundament der empirischen Naturwissenschaft. Wie es auf der einen Seite selbstverständlich ist, dass eine Naturwissenschaft als theoretische Erforschung der wirklich seienden Natur nicht möglich ist, ohne dass wir uns zunächst in theoretisch erfahrender Einstellung die Natur selbst ansehen, wo sie eben selbst und unmittelbar gegeben ist,
F I 16/43b "25"
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so ist andererseits nicht minder selbstverständlich, dass sie methodisch auch geleitet sein muss von dem, was eidetisch zu Räumlichkeit, Zeitlichkeit, Materialität als solcher gehört. Also ist es kein Zufall, sondern begreiflich, dass strenge Naturwissenschaft von mathematischen Begriffen und Sätzen wimmelt. Und es ist begreiflich, dass sie durch das Mathematische, durch dieses Eidetische [1] ihre Exaktheit nomologischer Theorie allererst gewinnt.
[1] Randbemerkung: Statt Eidetische im Ms. Eidetatische.
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[Die Phänomenologie als eidetische Wissenschaft und ihr Verhältnis zur empirischen Psychologie]
Wer uns so weit gefolgt ist, wer die Berechtigung des Ausgeführten für die physische Naturwissenschaft anerkannt hat, muss zugestehen, dass Analoges auch für die Wissenschaft vom Geiste und so überhaupt für alle Seinssphären gelten muss. Es ist also von vornherein klar, dass, wenn die Psychologie eine exakte nomologische Wissenschaft sein will, so muss sie wie die physische Naturlehre auf der ihr entsprechenden Eidetik des Psychischen gegründet sein, muss sie aus dieser die Quellen ihrer nomologischen Exaktheit schöpfen. Und umgekehrt: Ist das nicht der Fall, dann können die größten experimentellen Veranstaltungen, die schönsten Institute und Experten die Exaktheit nicht machen, zu einer wirklichen und strengen Nomologie nicht verhelfen. Das muss man sich ein für alle Mal klarmachen.
Überhaupt sind es höchste sowohl philosophische wie empirisch psychologische Interessen, die hier im Spiel sind. Man muss sich fragen: Ist nicht auch Geist eine Gegenständlichkeit, eine empirisch anzuschauende, zu erfassende und zu bestimmende? Offenbar. Dass es das ist, dazu brauchen wir keine Psychologie, das lehrt schon die Alltagserfahrung und Alltagsrede. Ist dem aber so, dann ist, wie bei jeder Gegenständlichkeit, die Frage nach ihrem Wesen und nach der regionalen Eidetik unabweisbar. Wie viele Erkenntnisse dieses Wesen des Geistes als solchen aus sich hergibt, das kann im Voraus nicht ausgemacht, das muss in ausführender Forschung herausgestellt werden. Ist Geist etwas, das erfahrungsmäßig mit physischer Natur, mit materieller Körperlichkeit in eins gegeben ist, so ist abermals die Frage nach dem Wesen psychophysischer Einheit. Und wie bloß materielle Dinglichkeit, an und für sich betrachtet, einer Wesensforschung zugänglich ist, so psychophysische Dinglichkeit und in dieser Einheit die Komponente Psychisches als solches, als individueller Geist. Und wieder, wenn zum Wesen des Geistes Ich und Bewusstsein gehören als Haben von Erlebnissen, als das „Ich habe Erlebnisse“, und wenn Erlebnisse etwas sind, das empirisch anschaubar, fassbar, bestimmbar ist (wie wiederum ohne weiteres sichtlich ist),
F I 16/44b "26"
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dann kann und muss es eine Wesenslehre der Erlebnisse geben. Jedes Erlebnis hat seinen immanenten „Inhalt“; nun eben dieser ist rein fassbar und bestimmt die Idee des so gearteten Erlebnisses überhaupt: die Idee der Wahrnehmung überhaupt, der Erinnerung überhaupt, des Urteilens überhaupt usw. Es ist also evident: Es muss wie eine Ontologie der physischen Natur so auch eine Ontologie des Geistes und des individuellen wie sozialen Geistes geben, und dieser Ontologie ordnet sich ein die Eidetik der Erlebnisse. Trotz aller wissenschaftlichen Anstrengungen, die die Psychologie in der Neuzeit gemacht und keineswegs ohne Erfolg gemacht hat, ist sie sich doch dessen nicht bewusst geworden, dass sie die Stufe der nomologischen Theorie nicht dadurch erringen könne, dass sie sich des größten Ausmaßes physiologischer und physikalischer Methodik versichert (die durch die Verbindung des Psychischen mit dem Physischen ermöglicht ist), sondern dadurch, dass sie sich der eidetischen Voraussetzungen der nomologischen Theorie versichere, die in ihrem eigentümlichen Gebiete liegen, eben im psychischen. Dieser Voraussetzungen konnte sich die Psychologie aber nicht versichern, weil sie in ihrer positivistischen Voreingenommenheit die Möglichkeit psychisch-eidetischer Forschung gegenüber der psychisch-empirischen nicht gesehen, geschweige denn erkannt hat, dass hier ein ungeheures Feld des Apriori vorliege, das in gleicher Weise fundamental ist für jede Theorie der Vernunft wie für jede Ausübung psychologisierender Vernunft in Form strenger und nomologischer empirischer Psychologie.
Allerdings, die physische Naturwissenschaft hatte für ihre Entwicklung einen ungeheuren historischen Vorteil darin, dass den Anfängen konkreter theoretischer Naturbetrachtung parallel lief, ja mit einem Vorsprung voranlief, die systematische Ausbildung einer völlig reinen mathematischen Eidetik, nämlich die in der platonischen Schule erwachsene euklidische Geometrie. Das bedeutete zugleich eine Erziehung des menschlichen Geistes für mathematisches Denken überhaupt. In der Zeit der Renaissance, als der Philosophie und Wissenschaft eine neue Jugend blühte und sie mit der Urkraft und dem Schwung der Jugend die antiken Überlieferungen empirischer und eidetischer Forschung aufnahm, da erstarkte vor allem die Mathematik und setzte immer neue große Zweige an; und mathematische Wesenserkenntnis erhielt aber zugleich die Funktion methodischer Fundamentierung der empirischen Naturerkenntnis. Die Idee der Natur enthüllt die bis dahin nicht durchleuchteten Tiefen, aus denen neue Wesensgesetzlichkeiten herausgeholt und zur bestimmenden Norm der Forschung gemacht wurden. Mit diesen verflochten sich alsbald die unter ihrer Anregung formulierten ersten quantitativen Naturgesetze der empirischen Physik und Astronomie.
F I 16/45a "27"
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Die Psychologie entbehrte solcher freilich. Ihre Forschung bezog sich ja auf Gegenständlichkeiten einer wesentlich neuen Region, so eng diese auch verflochten sein mochte mit der Region materieller Körperlichkeit. Ihr konnte die antike euklidische Geometrie nichts nützen. Und ebenso wenig die Erweiterung der Mathesis durch die Disziplinen der formalen Analysis und andererseits der Mechanik, da ja Quantität und Ordnung in der spezifischen Geistesregion keine erhebliche Rolle zu spielen berufen sind. Die Eidetik, der die Psychologie bedurfte, war eine Eidetik eben des Geistes. Deren Möglichkeit und Methode lag aber nicht ohne weiteres zutage, nicht so greifbar nah wie diejenige von Raum und Zeit. Schon die Herausarbeitung der Idee des materiellen Seins als Trägers von Kräften war ein großer Schritt gegenüber der Geometrie; nicht umsonst bedeutet erst die Begründung der analytischen Mechanik die der nomologischen Naturwissenschaft überhaupt. Sehr viel größer aber war die Schwierigkeit der Wesenserfassung und Wesensanalyse des Geistes; so groß, dass dieser Schritt bis zur Wende dieses Jahrhunderts nicht vollzogen worden ist. Und doch hängt hier wie überall die Möglichkeit nomologisch-exakter Wirklichkeitswissenschaft von einer Eidetik der gegenständlichen Region, die erfahrungswissenschaftlich zu erforschen ist, durchaus ab.
Das können die Vertreter der herrschenden Experimentalpsychologie unserer Zeit freilich noch nicht einsehen und selbst diejenigen nicht, die die Anfänge phänomenologischer Wesensanalysen in Rücksicht gezogen und in nicht geringem Maß benützt haben. Sie deuten eben das Phänomenologische sofort in Empirisches um. Es ist das ja ganz begreiflich. Auch die Naturforscher, eingestellt auf Wirklichkeitsforschung, sind geneigt, alle wissenschaftliche Erforschung als Erfahrungsforschung anzusehen. Ihnen gelten daher die mathematischen Disziplinen, die sie als ständiges methodisches Fundament und Hilfsmittel benützen, selbst als naturwissenschaftliche, nur aus Gründen praktischer Arbeitsteilung von der Naturwissenschaft getrennt. Sie merken es nicht, dass sie, so wie sie in reine Mathematik eintreten, ihre ganze Einstellung ändern, dass mathematische und physikalische Einstellung und Forschungsart grundverschieden sind. Oder vielmehr, sie merken es wohl, aber sie berufen sich auf die verkehrten empiristischen Theorien,
F I 16/45b "27"
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Gestrichen: Die uns durch Erfahrung als faktisch vorhanden sich ankündigenden Gegenständlichkeiten unterstehen selbstverständlich als Gegenständlichkeiten überhaupt der analytischen Ontologie, als Gegenständlichkeiten des bestimmten materiellen Gehalts dem allgemeinen regionalen Gegenstandsbegriff und somit der betreffenden regionalen Ontologie. So gewinnen also die apriorischen Ontologien empirische Bedeutung. Es ist nun z.B. für die Region der physischen Natur leicht einzusehen, dass, wenn eine dieser Idee zugehörige eidetische Wissenschaft überhaupt möglich ist, sie auch, abgesehen von dem theoretischen Interesse, das ihr selbst gebührt, um ihrer erfahrungswissenschaftlichen Bedeutung [willen] ausgebaut werden müsste. Es ist leicht einzusehen, dass eine solche Disziplin grundlegend sein muss für die Ermöglichung einer exakten und nomologischen Erkenntnis der faktischen physischen Natur.
Die physische Naturwissenschaft hatte den ungeheuren historischen Vorteil, dass den Anfängen konkret-deskriptive Naturwissenschaft parallel lief, ja mit einem Vorsprung voranlief die durch den Platonismus vollzogene Ausbildung mindest einer völlig rein mathematischen Eidetik, nämlich der euklidischen Geometrie. Das bedeutet zugleich eine Erziehung des menschlichen Geistes für mathematisches Denken überhaupt, und in der Zeit der Renaissance, als ihm eine neue Jugend blühte und er mit der Urkraft und dem Schwung der Jugend die antiken Überlieferungen empirischer und eidetischer Erkenntnisse aufnahm, da erwuchs die neue, so mächtig erweiterte Mathematik, sich sogleich erstreckend über die zum ersten Mal tiefer durchschaute und durchdachte Idee der physischen Natur überhaupt und sich alsbald verflechtend mit den ersten, auf beobachtender Erfahrung beruhenden quantitativen Naturgesetzen der Mechanik und Astronomie. Ende der gestrichenen Stelle
F I 16/46a "28"
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die eigens erfunden worden sind, um den Unterschied, der ein unüberbrückbarer ist, zu relativieren, als einen bloß scheinbaren hinzustellen. So kann es kommen, dass selbst die Mathematiker sich für Naturforscher halten und über ihre Forschungsart und Forschungsobjekte Auskünfte geben, die ihrem Sinn völlig zuwider sind. Es ist eben zweierlei, wirkliche eidetische Forschung treiben und über sie in der rechten Weise zu reflektieren, sowie es auch zweierlei ist, Naturforscher zu sein und über Sinn und Eigenart naturwissenschaftlicher Erkenntnis und ihre prinzipiellen Formen die rechte wissenschaftliche Auskunft zu geben. Man darf wohl sagen: Hätte nie ein Platon gelebt, hätte nicht tiefste Vertiefung in die Möglichkeit von Erkenntnis und Erkenntnisgegenständlichkeit zur Erfassung der reinen Idee geführt, so hätte die Menschheit keine Mathematik, und keine Möglichkeit, reine Mathematik beständig als reine anzuwenden und zugleich ihre Idealität zu leugnen. Es ist nun einmal überhaupt so: Einsicht schafft die Bedingungen vernünftiger Technik. Ist aber die Technik einmal prinzipiell ausgebildet, dann kann sie beherrscht und auch fortgebildet werden ohne mindeste Klarheit über ihre prinzipiellen Grundlagen. Für den nützlichen Gebrauch der Mathematik ist es einerlei, wie man sie sich interpretiert, wenn man sie nur korrekt handhabt.
Hätten wir schon eine umfassend und in Reinheit durchgeführte Wesenslehre des Geistes, dann wäre es natürlich ebenfalls gleichgültig, ob die Psychologen sie für eine Eidetik oder für eine empirische Disziplin hielten: wofern sie sie eben nur in ihrer reinen Ausgestaltung richtig beherrschten und anwendeten. Da es jetzt aber allererst gilt, einer Geisteseidetik und der mit ihr innig verflochtenen Phänomenologie des Bewusstseins zum Dasein zu verhelfen, ist es keineswegs gleichgültig, wie man sie bewertet. Denn wenn man dabei bleibt, alle auf Psychisches bezogene Forschung als empirisch anzusehen, so bleibt man auch in empirischer Einstellung und man erfasst und erhält nicht in Reinheit die Idee und die durch diese Reinheit vorgezeichneten reinen Zusammenhänge, es kommt daher nicht zu einer wirklichen Ausbildung der Eidetik.
F I 16/47a "29"
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Es ist ja auch Folgendes zu beachten: Einzelne ideale Erkenntnis haben (sei es mit oder ohne klarem Bewusstsein ihrer Eigentümlichkeit als reiner Erkenntnis) und sie im Zusammenhang empirischer Betrachtungen anwenden, das kann den Bedürfnissen vollkommener, d.i. exakter und nomologischer Erfahrungswissenschaft nicht genug tun. Der Rückgang in eine ideale Einstellung aus der empirischen ist, sagten wir ja früher, gar nichts Außerordentliches, sondern schon im gemeinen Leben Wohlvertrautes. Um die Stufe des reinen Zählens und des reinen Einmaleins zu erklimmen, braucht die Entwicklung der Menschheit zwar ein gewaltiges Stück, aber eine besondere hohe Kulturstufe ist damit nicht bezeichnet. Jedermann, der den klaren Sinn einfacher Zahlformeln versteht und sie aus gegebenen Anlässen der Erfahrung sinngemäß anwendet, hat ideale Erkenntnis und in strenger Erkenntnisfunktion. Aber das [ver]hilft noch zu keiner exakten nomologischen Wirklichkeitserkenntnis. Erst der Platonismus, meine ich, der in philosophischer Reflexion die Bedeutung der reinen Erkenntnis erfasste und die prinzipielle Forderung eines systematischen, in Konsequenz reiner Einstellung vollzogenen eidetischen Denkens aufstellt, beschenkte uns mit eidetischen Wissenschaften. Erst die systematische Durchforschung des im reinen Wesen von Zahl, Ordnung, Mannigfaltigkeit (im Wesen von der Apophansis, des logischen Urteils, im Wesen der Wahrscheinlichkeit, Möglichkeit, Notwendigkeit) Gelegenen, ebenso dessen, was die Idee des körperlich-materiellen Seins als räumlich-zeitlich-substanziellen Seins a priori an die Hand gibt, hat nomologische Wissenschaft und zunächst solche in der Sphäre der physischen Natur ermöglicht. Nun genauso wird es und muss es einmal strenge und nomologische Wissenschaft vom beseelten Wesen und vom Geist, der einen Leib beseelt, geben. [1] Aber es wird eine solche Wissenschaft nur geben können, wenn die systematische Wesensforschung die eidetischen Nomologien vorher entwickelt und zu relativer Höhe gebracht hat, die zur Grundlegung für diese empirische Wissenschaft von der beseelten Natur bzw. von den Geistern und Geistergemeinschaften berufen ist. Also die Eidetik des Geistes und der Gestaltungen geistigen Lebens ist die Bedingung der Möglichkeit einer [2]
[1] Cf. 31 2 [= F I 16/49b ??]
[2] Der Text bricht hier ab; der gestrichene Text auf der Rückseite des Blattes schließt nicht an.
F I 16/47b "29"
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Gestrichen: Für jede empirische nomologische Wissenschaft wird also in dieser Funktion in Betracht kommen: 1) die analytische Ontologie, die formale Mathesis der Gegenständlichkeit als solcher, die ein Gemeingut für alle empirische Wissenschaften ist, für sie alle in dieser Funktion in gleicher Weise zur Verfügung steht; 2) die regionale Ontologie, die Ontologie der Region, unter die sich die empirische Gegenständlichkeit gerade als ihrem obersten materialen Gegenständlichkeitsbegriff ordnet, so bei der Physik (der Lehre von der materiellen Natur) die Idee eben der materiellen Körperlichkeit, die hier den regionalen Oberbegriff ausmacht. Da die analytische Ontologie das Apriori der Gegenständlichkeit überhaupt und in allgemeinster Allgemeinheit behandelt, so hat sie aber dieselbe Stellung zu den übrigen Ontologien (und sich selbst) wie zu den empirischen Disziplinen. Freilich, dass sie eine geradezu überwältigende Rolle in den zu den Ideen Raum und Zeit gehörigen eidetischen Disziplinen spielt, dass jenes merkwürdige Ineinander von Analysis und Geometrie und Phoronomie herrscht, das wir von der Mathematik her kennen, das hat seine besonderen Gründe im eigenen Wesen von Raum und Zeit als Ordnungsformen und darin, dass die Eidetik der Ordnungen in die analytische Ontologie hineingehört. Schon das Altertum hatte diesen Unterschied erfasst und hat nicht nur vereinzelt, sondern, systematisch den systematischen Zusammenhängen des erfahrbaren Seins nachgehend, theoretisch wertvolle Erfahrungserkenntnis vollzogen. Ende der gestrichenen Stelle
F I 16/48a "30"
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[Rekapitulation:] [1] Die leider allzu große Pause, welche die letzte Vorlesung von der heutigen trennt, macht einen Rückblick auf den Gang unserer bisherigen Vorlesungen notwendig.
Es handelte sich um eine Emporleitung zur Phänomenologie vom Standpunkt des natürlichen Vorstellens und Denkens aus. Phänomenologie, sagten wir, liegt nicht in den Linien der Erfahrung und Erfahrungswissenschaften, obschon phänomenologische Haupttitel wie z.B. Wahrnehmung und Wahrgenommenes, Phantasieren und Phantasiertes, Aussagen und Aussagesatz, Werten und Wertgehaltenes u. dgl. zugleich auch als Titel für erfahrungswissenschaftliche Untersuchungen auftreten.
Wir sprachen den Satz aus, dass die phänomenologische Einstellung keine empirische, sondern eine eidetische ist, und ebenso, dass die Phänomenologie eine eidetische Wissenschaft ist. Es gilt nun zunächst das Recht der Eigengegenständlichkeit der Idee und ebenso das Recht der rein auf Ideen und ideale Einzelheiten bezogenen Forschung gegenüber den Missdeutungen des Empirismus zu vertreten. Die in unserem naturwissenschaftlichen Zeitalter so beliebte Identifikation von Gegenstand und individuell realem Dasein, von Wissenschaft und Naturwissenschaft ist falsch. Erfahrung, und letztlich Wahrnehmung, ist sicherlich ein Rechtsquell, aus dem alle erfahrungswissenschaftlichen Feststellungen schöpfen. Rechtsquell, das besagt, dass eben alle mittelbaren Behauptungen über reales Dasein auf unmittelbare, und zwar auf solche zurückführen, die sich nach unmittelbarer Gegebenheit orientieren. Näher besehen hat aber jeder unmittelbar gebende Akt die gleiche Autorität,
[1] Randbemerkung: Für die Vorlesung [Samstag,] 8.6.1912 (nach Pfingsten). Rekapitulation
F I 16/48b "30"
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und auch Ideen sind Gegenstände für mittelbar und unmittelbar begründete Aussagen, auch Ideen kommen zu unmittelbarer Gegebenheit und sogar adäquater Gegebenheit, die jeden Zweifel ausschließt. (Das unmittelbare Sehen liegt vor aller Theorie, und wie wir unmittelbar sehend empirisches Dasein erfassen und wie in diesem sehenden Erfassen ein Recht liegt, das wegzudisputieren verkehrt ist, so erfassen wir eben in einem unmittelbaren Sehen, genannt Ideenschauen, Ideen.) Ideen sind keine Erfindungen der Philosophen. In gewisser Weise kann man sogar sagen, alles ist voll [von] Ideen, und erst recht alle Wissenschaft ist voll von ihnen, sie spielen selbst im empirischen Denken eine beständige Rolle.
Ideen sind bald selbst Subjekte von Prädikationen, bald sind sie das nicht, und das eidetische Denken geht dann auf nicht empirisch gedachte Einzelheiten von Ideen in unbestimmter und jede individuelle Daseinssetzung ausschließender Allgemeinheit. Ferner auch kann empirisch Gesetztes zu rein Gedachtem in Beziehung gebracht und ideale Erkenntnis auf empirisch gesetztes Dasein bezogen werden. Wir überlegten dabei des Näheren, wie sich überhaupt im Denken Beziehung auf empirische Realität herstellt und wie reines Denken andererseits dergleichen Beziehung abstoßen und eben zu reinem Denken werden kann.
Wir vollzogen dann noch Ausblicke auf den Umfang eidetischer Forschung, auf den Unterschied zwischen formaler und materialer Eidetik und auf die Aufgaben einer allgemeinsten regionalen Eidetik, einer allumfassenden Kategorienlehre. Und zum Schluss sprachen wir von der Bedeutung der eidetischen Erforschung für die Ermöglichung nomologischer (sogenannter theoretischer, abstrakter) Erfahrungswissenschaften, zunächst für die physische Natur und dann für die Sphäre des individuellen und sozialen Geistes.
F I 16/49a "31"
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Bei den physischen Naturwissenschaften war es nicht schwierig zu zeigen, dass die Möglichkeit, sie auf die Stufen nomologischer und aus exakten Gesetzen erklärender Wissenschaften zu erheben, durchaus abhängig sein muss von der systematischen Ausbildung und methodischen Hereinziehung der Eidetik der Natur, m.a.W. abhängig von der Ausbildung einer reinen Geometrie, reinen Mechanik u. dgl. Disziplinen; das sind ja, wie wir ausführten, eidetische Disziplinen, welche zu Ideen wie Raum, Zeit, Materie, Kraft gehören, die ihrerseits konstitutiv sind für die Idee der Natur. Ist es aber wahr, dass die Idee der Natur a priori (und das heißt eben: nicht anders als rein wesensmäßig) erforscht werden kann, gibt es Komplexe von nomologischen Wahrheiten, ohne die räumliches und zeitliches Sein, ohne die reale Dinglichkeit in Raum und Zeit einstimmig nicht gedacht werden kann und die als im reinen Wesen liegend vor aller durch Erfahrung wirklich gegebenen Faktizität liegen, nun, dann ist es klar, dass die empirische Wissenschaft, die Naturwissenschaft im gewöhnlichen Sinn, die eben Wissenschaft vom Realen der faktisch erfahrenen Natur ist, methodisch durchaus wird abhängen müssen von jenen Disziplinen der reinen Naturwissenschaft, der Geometrie, der reinen Mechanik und was immer hier unterschieden werden mag. Da die formalen Ideen Mannigfaltigkeit, Ordnung, Zahl für die konstitutiven Ideen der Natur eine beherrschende Rolle spielen, so begreift es sich dann leicht, dass wie schon in Geometrie und Mechanik, so dann auch in den Disziplinen der theoretischen und angewandten Physik die formale Mathesis, die pure Analysis, ein Hauptwerkzeug der Forschung und des Beweises bilden muss.
Hat man sich all das einmal klargemacht, also klargemacht die ungeheure Bedeutung des Eidet[ischen] in den so hoch entwickelten Wissenschaften von der physischen Natur und die Gründe dieser Bedeutung, so wird es evident,
F I 16/49b "31"
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dass Ähnliches doch auch in der Geistessphäre gelten muss. Das heißt, wenn es überhaupt eine umfassende und an wissenschaftlichen Einsichten reiche Eid[etik] des Geistes geben kann, so müsste diese eine ähnliche Rolle spielen für die Ermöglichung nomologisch theoretisierender bzw. aus nomologischen Theorien erklärenden Geisteswissenschaften, also für die Ermöglichung einer im höchsten Sinn wissenschaftlichen Psychologie und Soziologie, die in der Stufe ihrer Entwicklung wirklich die Parallele wäre zur „theoretischen Physik“ und zu den mit Hilfe der Nomologie dieser Physik exakte Erklärung leistenden konkreten Naturwissenschaften. Wäre die Menschheit nicht dazu gekommen, zunächst die reine Geometrie und dann die übrigen rein mathematischen Disziplinen auszubilden, so hätte sich, das ist evident, die Naturwissenschaft niemals über die Stufe konkreter Naturbeschreibung, der konkreten Klassifikation und ungefähren Induktion zu konkreten Regelmäßigkeiten des Naturgeschehens erheben können. Es gäbe dann keine Naturwissenschaft im höheren Sinn. Auch eine Geisteswissenschaft in diesem höheren Sinn, d.i. [der] im Sinn einer nomologisch theoretisierenden und nomologisch erklärenden Wissenschaft, kann es prinzipiell nicht geben, wenn das im Wesen des Geistes Liegende nicht in eidetischer Wissenschaft entfaltet wird. Immer vorausgesetzt, dass die Idee des Geistes wirklich einen so reichen Bestand an Wesenseinsichten in sich birgt, deren Entfaltung nicht in zwei oder drei Sätzen, sondern in ganzen Wissenschaften erfolgen muss. Andererseits haben wir von einer rationalen Psychologie als Fundament der wissenschaftlichen Psychologie der Neuzeit nie etwas gehört. Allgemein spricht man von der rationalen Psychologie als einer durch Kants Kritik längst widerlegten Metaphysik, einer Metaphysik im übel beleumdeten Sinn, auf die kein „modern-wissenschaftlicher“ Psychologe je rekurrieren könne. Vielleicht mag diese Ablehnung zutreffend sein für die rationale Psychologie des 18. Jahrhunderts. Grundfalsch ist sie aber hinsichtlich der rationalen Psychologie im echten Sinn, d.i. im Sinn nach der echten Methode eidetischer Forschung aus dem intuitiv gegebenen Wesen des Geistes und Geisteslebens geschöpften nomologischen Wesenslehre.
F I 16/50a "32"
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So wie das physische Ding und die physische Natur ihr Eidos haben, das sich nicht in ein paar Sätzen, sondern in ganzen Wissenschaften entfaltet, also kennen lehrt, was, unangesehen der Frage nach dem in wirklicher Erfahrung Gegebenen, zum Wesen, zur idealen Möglichkeit von physischem Ding überhaupt, von Raum, Zeit, Raumgestalt und Zeitgestalt, von Materie und Kraft überhaupt usw. gehört, so hat auch das, was wir „Leib“ nennen und was mehr ist denn physisches Ding, und hat Geist und hat die konkrete Einheit von Leib und Geist, also die Idee des Tieres, ein Apriori, ein Eidos. Und dazu gehört auch die Idee des Erlebens und des Erlebnisses, die offenbar konstitutiv ist für die Idee eines beseelten „ζῷον“. Jeder Grundart von Erlebnissen entspricht ein Wesen und entsprechen umfassende Wesenserkenntnisse. Schon die Wesenslehre der Erlebnisse und ihrer intentionalen Korrelate ist, wie sich in meinen Forschungen des letzten Jahrzehnts herausgestellt hat, ein unendliches Feld und damit verflicht sich das Apriori, das zur dinglichen Einheit des Geistes bzw. des Geistleibes, des ζῷον gehört, für dessen Erkenntnis nur Anfänge gewonnen sind. Von all dem hat aber die moderne Psychologie keine Ahnung, und die ersten dem Erlebnisgebiet nach noch sehr beschränkten Wesensanalysen der Logischen Untersuchungen sind von den Psychologen fast durchaus zwar nicht unfreundlich aufgenommen, aber im Sinn von empirisch-psychologischen Analysen umgedeutet worden. Das leider auch von vielen, die sich Idealisten nennen, wie ich das z.B. auch mit Bedauern von Windelband konstatieren muss. Ich will damit keinen Vorwurf aussprechen, da ich von mir selbst und meinen Anfängen nur zu gut weiß, wie schwer es ist, wahrhaft vorurteilsfrei zu sein und dem direkt Gesehenen seine Ehre zu geben, und da ich weiter weiß, welche ungeheuren Schwierigkeiten die Ausbildung reiner Methode in einem in der Einstellung eidetischer Forschung noch gar nicht berührten Gebiet sowie die Auffindung der echten Ausgangspunkte und der rechten Fortschrittslinien mit sich bringt. Schließlich geht es mit der Heilung der eidetischen und speziell phänomenologischen Blindheit genauso
F I 16/50b "32"
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wie mit derjenigen der physischen Blindheit. Wer plötzlich sieht, dem soeben der Star gestochen ist, findet sich einem Chaos von Eindrücken gegenüber; die verworrenen Empfindungen müssen sich erst zu einheitlichen Anschauungen ordnen, der Sehende muss anschauend sehen lernen. So ähnlich verhält es sich mit der Eidetik des Geistes und speziell des Geisteslebens in Form der verwirrend mannigfaltigen intentionalen Erlebnisse, der Wahrnehmungen, Phantasien, Erinnerungen, Erwartungen, der Vergleichungen, Unterscheidungen, Kollektionen, Disjunktionen, Prädikationen usw., und dazu für jede [der] so mannigfaltigen und fließenden Formen der Klarheit und Dunkelheit, der Deutlichkeit und Undeutlichkeit, der verschiedenen Art der Beziehung auf gegenständliche Korrelate usw. Zudem kann der an die empirische Einstellung Gewöhnte zunächst eben diese Gewohnheit nicht loswerden; er wird, selbst wenn er schon im Einzelnen eidetische Einstellung gelernt hat, immer wieder in empirische Einstellung zurückfallen; er wird geneigt sein, die eidetische Einstellung als eine Spezialität anzusehen, unfähig ihre allumfassende Möglichkeit zu erkennen. Das größte Hemmnis ist der allherrschende Empirismus und Skeptizismus und dass er im Verborgenen auch eine Macht bei den Idealisten übt. Damit hängt es zusammen, dass auch diejenigen eidetischen Disziplinen, die in Altertum und Neuzeit Ausbildung und reichste Ausbildung erfahren haben, entweder empiristisch umgedeutet oder nicht im ganz reinen Sinn verstanden werden; und auch das trägt dazu bei, dass die von uns verfochtene Idee einer Eidetik des Geistes und Geisteslebens, wie überhaupt einer Eidetik aller Gegenständlichkeiten überhaupt, so wenig entgegenkommendes Verständnis findet.
Doch kehren wir nun wieder zum Hauptzug unserer Betrachtung zurück. Wir sagten: Dürfen wir es als sicher annehmen, dass eine solche Eidetik möglich ist, ja in umfassenden Anfängen schon ausgebildet vorliegt, dann ergibt sich die selbstverständliche Folge, dass sie dazu berufen ist, dieselbe Rolle für die Geisteswissenschaften
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zu spielen, als welche die mathematischen Disziplinen für die Naturwissenschaften spielen. Also müssen wir auch umgekehrt sagen: Da die moderne Experimentalpsychologie der methodischen Beihilfe einer psychologischen und psychophysischen Eidetik entbehrt, so kann sie weder schon die Stufe einer wirklich exakten und nomologischen Wissenschaft erreicht haben, noch sie auf ihren Wegen je erreichen. [1]
All die großen Bemühungen bedeutender Männer, die Psychologie, und die Geisteswissenschaften überhaupt, nach dem Vorbild der exakten Naturwissenschaft zu reformieren, ihr die Entwicklungsstufe nomologischer „exakter“ Wissenschaft zu verleihen, sind gescheitert und mussten scheitern, weil man das Vorbild selbst nicht verstand; weil man es nicht verstand, was den wahren Vorzug der neuen Naturwissenschaft gegenüber der anderen Erfahrungs-Naturlehre ausmacht, also den wahren Unterschied zwischen Naturbeschreibung und nomologischer Naturerklärung, und wieder, weil man nicht verstand, was die eigentliche Quelle dieses Vorzuges sei: nämlich die methodische Fundamentierung der Naturerkenntnis auf Eidetik der Natur. Systematische, in der Einstellung theoretischen Verfahrens vollzogene Naturbeobachtung und auch experimentelle Naturbeobachtung hatten schon die Alten, und hatten die Neueren schon vor der exakten Naturwissenschaft. Theoretische Naturwissenschaft im spezifischen Sinn und theoretische Naturerklärung in dem entsprechenden Sinn waren aber erst möglich durch die Wirksamkeit tiefdringender Einsicht in das „Wesen“ der Natur, das Wesen im Sinn des Eidos.
Es [2] ist lehrreich zu beachten, dass auch heutzutage noch genug der Naturgebiete sind, in welche die nomologische Physik bisher nicht hat hineinleuchten können. Das gilt ja von so manchen Gebieten der Medizin, die darum nicht etwa unwissenschaftlich ist. Sorgfältige Beobachtungen und Experimente geben hier wertvolle Ergebnisse, die aber keine tiefere, in das Wesen der Sachen selbst eindringende Einsicht bieten. Das „Wesen“ des Lebens, das die Biologie sucht, ist auf dem Wege bloßer Empirie, bloßer Beobachtung und des Experiments nicht zu gewinnen, sondern nur von Seiten der Wesensbegriffe des Lebens,
[1] Randbemerkung: Bis hier Rekapitulation.
[2] Randbemerkung: Zur Ergänzung.
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von Seiten der prinzipiellen Fassung der Idee des Lebens, die in Verbindung mit der Empirie eine nomologisch-exakte Bestimmung des empirisch gegebenen Lebens ermöglichen. Wo die Wesenseinsicht, die die allgemeine Artung der hier zu erforschenden Gegenständlichkeiten fordert, sehr zurückgeblieben ist und in Folge davon auch die von ihr abhängige Nomologie, da verbleibt die Wissenschaft auf der niederen Stufe einer, darum keineswegs wertlosen, systematisch beobachtenden und eventuell experimentellen Erfahrungslehre.
Deskriptive Anatomie und Physiologie und weiter deskriptive Pathologie und Therapie, wo irgend möglich systematisch Experimente hereinziehend, sind bedeutende und keineswegs abschätzig zu beurteilende Wissenschaften. Aber niemand wird den Abstand verkennen, der sie von der theoretischen Physik und ihren Anwendungsgebieten trennt. Nur hier wird Erklärung im prägnanten Sinn, nicht bloß Unterordnung des Einzelnen unter empirisch-konkrete Regeln, sondern kausale Erklärung geleistet. Alle kausale Erklärung ist aber Wesenserklärung. In methodischer Weise wird das individuelle substanzial-kausale Wesen bestimmt und aus ihm erklärt; die leitenden Prinzipien aber und Methoden, um im faktisch Gegebenen das reale Wesen und seine Zusammenhänge herauszuarbeiten, liegen in den zur Idee der Realität gehörigen Gesetzeseinsichten.
Nun meine ich, ganz analog verhält sich die moderne wissenschaftliche Psychologie zur wahrhaft exakten, nämlich nomologisch erklärenden Psychologie, die das Desiderat der Zukunft ist,
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wie sich die moderne Biologie zur nomologisch erklärenden Biologie verhält, die ebenfalls ein bloßes Desiderat ist. Und beiderseits handelt es sich insofern nicht um Verschiedenes, als wenigstens die Lehre vom Tierischen, also dem Leben eines beseelten Wesens, natürlich gar nicht zu trennen ist von der Psychologie und beide bei passender Weite der Begriffe sogar zu decken sind.
Danach bin ich also wohl vor Missdeutungen bewahrt, und Sie verstehen, in welchem Sinn ich der modernen Psychologie den bloß niederen Rang einräume und ihr das Recht, sich schon als „exakte Wissenschaft“ auszugeben, abstreite. In keiner Weise kann ich anerkennen, dass die moderne Psychologie schon Wissenschaft in einem gewissen allerprägnantesten Sinn ist, also die Wissenschaftsstufe erreicht hat, die uns die Physik der Neuzeit expliziert und die sie mit Galilei erklommen hat. Die experimentelle Psychologie unserer Zeit ist noch nicht so weit wie die Physik zur Zeit Galileis; die Epoche nomologisch erklärender Psychologie und überhaupt Geisteswissenschaft hat noch nicht angefangen, und hat es nicht, weil die Voraussetzung solchen Anfangens nicht erkannt worden ist, nämlich die Eidetik des Geistes, und das umspannt auch das, was wir Phänomenologie nennen.
Selbstverständlich besagt das nicht eine Geringwertung der in der Psychologie vollzogenen Arbeitsleistung und des dabei in Aktion tretenden wissenschaftlichen Talents und Genies. Die großen Mediziner schrumpfen hinsichtlich ihrer geistigen Bedeutung nicht etwa zusammen, wenn wir uns klarmachen, dass sie bloß Empiriker sind und dass ihre Leistung wissenschaftstheoretisch tief unter der Leistung der Physik steht. Die unbedeutendste Leistung des unbedeutendsten Physikers hat den Vorzug nomologischer Erklärung; die ganze Wissenschaft steht auf dem höheren Niveau bzw. dort auf dem niederen.
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Wir können also das in der experimentellen Psychologie Geleistete und die Summe des hierbei angewendeten Scharfsinns hoch einschätzen, während wir doch die überall herrschende Blindheit für das, was ihr fehlt, bekämpfen, für das, was ihr gar sehr Not tut, wenn sie wirklich exakte Wissenschaft werden will: die Gründung auf eine Wesenslehre von Geist und Geistesleben. Darum ist ja auch der in den Psychologenkreisen herrschende Empirismus ein Hemmnis für die Psychologie selbst, und müsste in deren eigenem Interesse der psychologistische Bann gebrochen werden, der es macht, dass die Psychologen vor lauter Psychologismus die Psychologie nicht sehen, nämlich die nomologisch strenge Psychologie, deren Ausbildung ihr höchstes Ziel sein sollte. Dazu kommt aber, dass aus gewissen Gründen, die ich im „Logos“ [1] entwickelt habe, das Eidet[ische] eine unvergleichlich größere Rolle noch spielt für die Psychologie als für die Physik, damit zusammenhängend, dass die Zahl der eidetischen Gestaltungen, der Grundbegriffe, wie wir auch sagen können, in der Psychologie unvergleichlich größer ist, und ihre reinliche Scheidung, auch nur zu rohen empirischen Zwecken, nicht eine so einfache Sache ist wie in der Sphäre der äußeren Natur. Schon um mit festen Begriffen operieren zu können, bedürfen wir hier einer eigenen systematischen Scheidungskunst, die Sache einer Eidetik des Geisteslebens ist und an der es ganz und gar gefehlt hat.
[1] Anmerkung des Herausgebers: „Philosophie als strenge Wissenschaft“. In: Logos, 1(3), 1910-1911, S. 289-341 (vgl. Husserliana XXV, S. 3-62).
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Wir [1] haben bisher allgemein das Recht der eidetischen Disziplinen verfochten und gegenüber den herrschenden empiristischen Vorurteilen zu zeigen versucht, dass sogar im eigensten Interesse der empirischen Wissenschaften die übliche Missdeutung und feindliche Ablehnung des reinen Eidos zu beklagen ist. Die Wissenschaften von der physischen Natur in ihrer jetzigen hohen Entwicklung leiden in dieser Hinsicht allerdings nicht Schaden. Sie haben den unschätzbaren Vorzug, dass die für ihre Entwicklung zur Stufe nomologischer Theorie erforderliche reine Mathematik längst da war und nun da ist, so ausgereift, dass empiristische Missdeutungen ihr und ihrer naturwissenschaftlichen Anwendung nichts anhaben können. Jede neue mathematische Generation lernt eben an den vorhandenen Theorien die Forschungsart reiner Mathematik kennen, also in den Gebieten von Raum, Zeit, Zahl, Kraft u. dgl. reine Ideenforschung vollziehen. Ob man hinterher, in nachkommenden verkehrten Reflexionen das Eidet[ische] für Empirisches erklärt, seinen Wesenscharakter fälschlich umdeutet, darauf kommt es nicht an, da diese Reflexionen für die Anwendung der Mathematik auf die Naturwissenschaft nicht infrage kommen. Anders steht die Sache aber hinsichtlich der Psychologie, wo es allererst gilt, die entsprechende psychologische Eid[etik] zu begründen und wo das empiristische Vorurteil das Aufkommen eidetischer Forschung in der psychologischen Sphäre überhaupt verhinderte oder zu verhindern tendiert. Solange es aber daran fehlt, kann die Psychologie die niedere Stufe einer empirischen Experimentallehre und Beobachtungskunst nicht überschreiten und auch nicht in den kleinsten Ansätzen die Stufe der psychologischen Nomologie erreichen. De facto steht die experimentelle Psychologie nicht einmal auf der Stufe der experimentellen medizinischen Therapie
[1] Randbemerkung: 12. 6. 1912 [Mittwoch, Beginn einer neuen Vorlesungsstunde].
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die doch wenigstens in einigem, wenn auch in bescheidenem Maß, von der nomologischen Naturlehre, von der theoretischen Physik und Chemie Nutzen zu ziehen vermag.
Natürlich besagt das nicht eine Geringschätzung der in der modernen Psychologie ebenso wie in der modernen Medizin geleisteten Arbeit. Es besagt aber, dass diese Psychologie im Ganzen genommen noch nicht die Stufe erklommen hat, die die physische Naturwissenschaft mit Galilei erklomm.
[Phänomenologie als Eidetik des reinen Bewusstseins]
Indessen wir wollen unsere Betrachtungen nicht in dieser Richtung weiterführen. Unser Interesse gehört nicht den eidetischen Disziplinen als bloße Mittel für die Nomologisierung der empirischen Disziplinen, und es gehört auch nicht den eidetischen Disziplinen überhaupt, sondern der Phänomenologie. [1]
[1] Randbemerkung: Neue Betrachtung. – Übergang zur Phänomenologie.
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Diese, welche wenn auch nicht ohne Missdeutlichkeit als Eid[etik] des reinen Bewusstseins bezeichnet werden kann, hat zwar Wesenszusammenhänge mit allen eidetischen Disziplinen und durch sie hindurch mit allen Disziplinen überhaupt; aber wenn sie auch über sie alle in ihrer Art hinübergreift, so hat sie doch ihnen gegenüber ihre eigene Art und ihre eigene Domäne. Besonders nah ist ihr Zusammenhang mit jener rationalen Psychologie, von der letzthin die Rede war. An diese können wir zunächst anknüpfen, um uns schrittweise Idee, Arbeitsgebiet und Methode der Phänomenologie klarzumachen.
Gehen wir aus von der empirischen Psychologie. Ihr eigentümliches Erfahrungsgebiet gegenüber der physischen Naturwissenschaft ergibt sich in ursprünglichster und schlichtester Weise in folgender Art. Die Physik ist die Wissenschaft von den materiellen Körpern; jedes materielle Ding fällt als solches, also nach seinen materiellen Eigenschaften, materiellen Veränderungen, und ebenso jeder Vorgang als materieller in ihre Domäne. Unter den materiellen Körpern gibt es erfahrungsmäßig aber auch solche, die neben materiellen Eigenschaften andere sich charakteristisch von ihnen unterscheidende haben: und das, wie gesagt, erfahrungsmäßig und vor aller Theorie. Gewisse materielle Körper sind Leiber, d.i. sie „empfinden“. Jeder materielle Körper hat Schwere; aber Schwere haben als materieller Körper ist etwas ganz anderes als Schwere empfinden, wie mein Leib etwa in seiner Hand es tut, wenn er ein Gewicht hebt. Ebenso ist warm sein und Wärme empfinden, sich als Körper bewegen und Bewegung empfinden usw. sicherlich zweierlei und in einem uns allen wohl bekannten Sinn. Mit dem Empfinden hängt dann weiter vielerlei zusammen, das Wahrnehmen, das Phantasie- und Erinnerungsvorstellungen-Haben, das Aussagen und Denken usw. Andererseits das Fühlen, das Wertschätzen, das Sich-Freuen und Missfallen-Haben, das Begehren und Wollen sowie das wollende Tun, das Handeln, darunter das willkürliche Sich-Bewegen.
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Diese Vorkommnisse sind dem materiellen Körper, meinen wir, außerwesentlich, wir schreiben sie tatsächlich nicht allen zu, wir scheiden „beseelte“ und unbeseelte Körper, Leiber und Nicht-Leiber. Die neuen Beschaffenheiten sind nun nicht zusammenhangslose Annexe der Leiber. Sie haben erfahrungsmäßig eine Einheit, die nicht bloß Einheit der Beziehung auf den identischen materiellen Leib ist. Wir Menschen kennen diese Einheitsart von uns selbst her, sie drückt sich bei uns damit aus, dass wir jeder „Ich“ sagen und sagen „Ich nehme wahr, ich denke, ich urteile, ich will, ich tue“. Und sie drückt sich wieder damit aus, dass wir uns „Menschen“ nennen, d.i. eben Wesen, Realitäten, deren jedes – in der Form des ich „bin“ erlebende Realität – ein Ich, eine Person ist, ein Jemand, der etwas erlebt, etwas erleidet oder tut usw. Und nicht nur das: In der Rede von „Ich“ und von einer Person, einem Menschen und Tier liegt auch, dass die Icherlebnisse unter gewissen empirischen Regelungen stehen und dass sie zum betreffenden Ich, zur betreffenden Person in einem bis zu einem gewissen Grad analogen Verhältnis stehen wie physische Eigenschaften zum physischen Ding, als dem physischen Erfahrungssubjekt dieser Eigenschaften. So wie das physische Ding sozusagen seinen Charakter hat, seine individuelle Eigenart, die ich erfahrungsmäßig kennenlernen kann und dergemäß ich ihm nicht nur wahrnehmend die Eigenschaften zuschreibe, die gerade mir wirklich zu Gesicht kommen, vielmehr sogleich weiß, wie es sich unter wechselnden physischen Umständen benehmen, wie es sich bei Druck und Zug, bei Erwärmung und Abkühlung, bei Biegen, Reißen, Werfen usw. verhalten wird. Genauso kann ich mich und kann ich andere beseelte Wesen durch Erfahrung kennenlernen, und danach schreibt sich jeder und schreibt jeder einem anderen, den er kennenlernt, einen Charakter, eine sogenannte geistige Eigenart, eine eigene Persönlichkeit zu, und diese ist das „psychische“ Subjekt seiner „psychischen“ Eigenschaften; und jede solche geistige Eigenschaft
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impliziert gewissermaßen eine Regel für gewisse Gruppen von Erlebnissen: so schon die Sinneseigenschaften, wie wenn wir einem Tier oder Menschen Sinn (und das heißt nicht Sinnesorgane) zuschreiben, oder Gemütseigenschaften wie Bosheit, Freundlichkeit usw., womit ein typisch geregeltes Gemüts- und Willensverhalten angedeutet ist usw.
Schlichte ursprüngliche Erfahrung, vor aller Wissenschaft, bietet uns also zweierlei Gattungen individueller realer Gegenstände dar, jede durch andere Eigenschaftsgruppen und Gruppen wechselnder Zustände charakterisiert: fürs Erste die bloß materiellen Körper, und fürs Zweite die gewisse materielle Körper beseelenden Geister, Persönlichkeiten, Ichs u. dgl. Die Letzteren finden wir in keiner Erfahrung getrennt von den Körpern. Erfahrungsmäßig haben wir eigentlich als Zweites die eigentümliche Doppeleinheit Geist-Leib. Von da aus führt dann ein leichter Schritt zu den Einheiten höherer Ordnung, die wir menschliche und tierische Gemeinschaften und Gesellschaften nennen, worauf wir für unsere Zwecke nicht eingehen müssen.
Vollziehen wir nun anstelle der bisherigen empirischen Einstellung die eidetische. Schalten wir alle empirische Daseinssetzung aus, erwägen wir anstelle dieser verschiedenen Sorten empirischer Gegenständlichkeiten die entsprechenden Ideen. Dann ergibt sich einerseits die Idee der Natur mit den für die Natur konstitutiven Ideen Ding, dingliche Eigenschaft, dinglicher Zustand, Bewegung, Veränderung und Wechsel usw.; natürlich auch Raum, Zeit mit allen zugehörigen Begriffen. Andererseits [ergibt sich] die Idee jener Doppeleinheit beseelter Leib und darin die Einheit des Geistes als der Seele des Leibes, als des beseelenden Ich mit den personalen Eigenschaften, den Dispositionen, den Zuständen, Akten usw. Ferner das Wesen Leib mit seinen Eigentümlichkeiten des „Empfindens“. Bei all den gebrauchten Worten ist aber, wie scharf betont werden muss, an nichts weniger, als an metaphysisch oder theoretisch zurechtgemachte Begriffe zu denken, sondern an das unmittelbar der Erfahrung in eidetischer Reduktion Entnommene. [1]
Unser Interesse gehört hier aber weder der einen noch der anderen Idee und den zugehörigen Ontologien, d.i. der rationalen Naturlehre und rationalen Psychologie.
[1] Randbemerkung: Dann 17 [= wohl F I 16/37]? Oder hier 44 [= wohl B II 19/13].
B II 19/7b "37"
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Gestrichen: Vielmehr stellen wir folgende Überlegung an. Betrachten wir die reine Idee des Geistes. Descartes stellte in seinem Dualismus in scharfer Trennung die beiden grundverschiedenen „Substanzen“ Körper und Geist gegenüber; er meinte, dass im Wesen der ext[ensio], die er als wesentliches Attribut des Körpers fasste, nichts von cog[itatio] und im Wesen der cog[itatio] nichts von ext[ensio] liege. Inwieweit seine Analysen hier der Vertiefung, Berichtigung und Klärung bedürfen, können wir hier nicht untersuchen (auch nicht, inwiefern ein Ich wesensmäßig denkbar ist ohne physischen Leib, und inwiefern etwa die Möglichkeit einer Vielheit miteinander in geistigem Connex stehender, miteinander geistig verkehrender Geister, also die Möglichkeit von Gesellschaft doch wieder der Vermittlung durch Leiblichkeit wesentlich bedürftig sei). Wir wollen vielmehr unsere Aufmerksamkeit nur auf Folgendes lenken. Ende der gestrichenen Stelle
B II 19/8a "38"
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Vielmehr stellen wir folgende Überlegung an: Bekanntlich stellt Descartes Geist und Körper als grundverschiedene Substanzen hin. Jeder von ihnen gehöre ein wesentliches Attribut zu, dem Geist die cog[itatio] , dem Körper die ext[ensio] . Diese wesentlichen Attribute seien grundverschieden, ihrem Wesen nach völlig getrennt. Wesensmäßig liegt in der cog[itatio] nichts von ext[ensio] und umgekehrt. Demnach können Modi der ext[ensio] und cog[itatio] nicht einer einzigen Substanz anhängen; eine Substanz kann nicht Eigenschaften haben, die zu mehreren im Wesen getrennten Attributen gehören, zu Attributen, die ihrem Wesen nach nichts miteinander zu schaffen haben.
Der Hauptkern dieser Argumentation ist meines Erachtens durchaus richtig, wenn ich auch nicht dafür einstehen möchte, dass Descartes alle scholastischen Überbleibsel seiner Begriffe abgestoßen hat.
Lassen wir alle Scholastik, alles was spekulative Philosophie in Betreff der Begriffe Substanz und Akzidenz überliefert hat, beiseite und halten wir uns an unmittelbare Gegebenheiten, nach ihnen unsere Begriffe orientierend. Ohne tiefste und letzte Klärungen hier geben zu können, können wir doch einige Aufweisungen vollziehen, die unsere Begriffsbildung leiten können. Wir führen damit nur tiefer aus, was wir vorhin schon zu Zwecken der Scheidung von Psychologie und physischer Wissenschaft angedeutet haben.
Ein materielles Ding ist ein „reales Sein“, ein Ding im prägnanten Sinn, eine substanzielle Einheit. Es ist nicht bloß überhaupt Subjekt von Prädikat, wie alles und jedes, das wir mit Recht als seiend bezeichnen. Auch eine Zahl ist logisches Subjekt; sie hat in Wahrheit Prädikate, sie ist aber kein Ding, kein substanzielles, kein reales Sein. Auch die Individualität, auch nicht das zeitliche Sein macht es. Ein Ton ist zeitlich Seiendes, aber kein Ding. Wir stoßen bei dem materiellen Ding auf gewisse Eigentümlichkeiten: Das Subjekt ist identischer „Träger“ von dauernden, bald immerfort unveränderten, bald veränderten Eigenschaften, von Akzidenzien.
B II 19/8b "38"
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Was da Eigenschaft heißt, ist nicht ein beliebiges Prädikat. Das Ding hat mechanische Eigenschaften: Gravitationseigenschaften, Eigenschaften der Kohäsion, der Elastizität, hat optische, magnetische Eigenschaften etc. Jede Eigenschaft ist dabei ein einheitlicher Titel, zu dem mannigfach wechselnde „Verhaltungsweisen“ oder, wie man gewöhnlich sagt, „Zustände“ gehören, mannigfach wechselnd je nach den mannigfachen Umständen und dabei wechselnd nach empirischen Regeln. Das bestimmte Ding, z.B. ein Stück Kalkspat, hat seine bestimmten optischen Eigenschaften: Sie umfassen das, was dieses Ding optisch ist. Aber je nach den Umständen, je nachdem es so oder so beleuchtet, erwärmt usw. wird, habe [ich] es immer wieder in einem anderen optischen Verhalten, und eben in diesem geregelten Wechsel bekundet sich die optische Eigenschaft. Ein Körper hat seine Elastizität und, wie wir etwa annehmen wollen, unverändert. Je nach den Umständen des Druckes und Zuges wechselt aber sein elastisches Verhalten: In den bestimmten Modis dieses Verhaltens, etwa in der bestimmten Art zu schwingen und mechanische Arbeit da zu leisten u. dgl., bekundet sich die physikalische Eigenschaft der Elastizität. Ändert sich die Elastizität, so ändert sich die Regelung dieser Verhaltungsweisen, die zu den und den Arten von Umständen gehören; und diese Änderung ist selbst wieder eine geregelte.
All das wechselt in seiner Besonderheit von physischem Ding zu physischem Ding, aber ein allgemeinster Typus ist überall derselbe. Erheben wir ihn in reinem Denken zur Idee, so gewinnen wir also die Idee der physischen, der materiellen Substanz.
Gehen wir nun zum Geist über, und verstehen wir darunter ausschließlich das, was uns wohl bekannt ist als das einheitliche Sein, das wir unser personales Ich nennen und das wir als Einheit der Personalität (natürlich nicht in einem beschränkten Sinn) uns und jedermann zuschreiben, so finden wir hier
B II 19/9a "39"
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hinsichtlich der allgemeinen Form dieser Einheit als Einheit von Eigenschaften und der Beziehung zwischen Eigenschaften und wechselnden Zuständen, Verhaltungsweisen eine offenbare Analogie mit dem materiellen Ding. [1] Diese letzteren Verhaltungsweisen und Zustände, das sind nichts anderes als die aktuellen Erlebnisse, die Empfindungen, Wahrnehmungen, Urteile usw. Die Einheit des Geistes, z.B. des Menschengeistes, besteht nicht darin, dass der Mensch überhaupt dergleichen Erlebnisse hat, sondern dass er einen einheitlichen Charakter, Gesamthabitus, einen einheitlichen Komplex von bleibenden „Vermögen“, „Dispositionen“ hat; und diese sind es, die den „Eigenschaften“ der Körper entsprechen, und wie diesen entsprechen ihnen Gruppen von geistigen „Zuständen“, nämlich von Erlebnissen, in empirischer Regelung. Heben wir den eigentümlichen Typus des Geistes heraus, so gewinnen wir die Idee der geistigen Substanz und als Gemeinsames beiderseits die Idee Substanz überhaupt. Offenbar liegt nun das Spezifische der Körperlichkeit und der Geistigkeit nicht in etwas, was sich mit dem allgemeinen Wesen Substanz verknüpft; vielmehr schließt das Wesen des Körpers als solchen unabtrennbar das Wesen der Substanz ein, als die allgemeine Form, die sich in dem körperlichen Sein nur besondert. Und ebenso für das Wesen des Geistes. Geistigkeit als solche ist von vornherein ihrem Wesen nach Besonderung der Form der Substanzialität. Es ist daher nicht klärend, sondern irreführend, von wesentlichen Attributen zu sprechen.
Vergleichen [2] wir nun das spezifische Wesen von Körperlichkeit und Geistigkeit, so erkennen wir leicht, dass es sich dabei nicht um substanzielle Besonderungen handelt, die etwa so stehen wie die Besonderungen Gold und Quarz, oder Mensch und Affe. Körperlichkeit und Geistigkeit sind offenbar grundverschieden; sie sind offenbar so, dass sie sich ihrem Wesen nach ausschließen, dass Eigenschaften der einen und anderen Gruppe sich nicht mischen können,/p>
[1] Einfügung: Also [eine offenbare Analogie mit dem materiellen Ding] bleibt übrig.
[2] Randbemerkung: Cf. f[olgende] V[orlesung] verhauen[??] .
B II 19/9b "39"
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sich nicht ersetzen können, und dass demgemäß die Zuständlichkeiten der einen und anderen Gruppe nicht als Verhaltungsweisen einer Substanz in gleichem Sinn fungieren können. Damit hängt zusammen, dass sich zwei materielle Substanzen nicht nur verbinden, sondern sich vereinigen können zu einer materiellen Substanz. Dagegen: Materielles und Geistiges kann sich zwar verbinden und tritt uns in der Erfahrung und Anschauung als Verbundenheit entgegen, aber die Einheit ergibt nicht die Einheit einer Substanz, sondern eben eine Verbindung zweier Substanzen. Im Wesen der Materialität liegt nichts von der Geistigkeit und umgekehrt. Also fordert nichts Geistiges, mag es auch faktisch verbunden sein und somit wesensmäßig verbindbar sein mit Materiellem, diese Verbindung.
Im Wesen jeder geistigen Eigenschaft und jedes geistigen Zustandes liegt nichts, was notwendig die Beziehung auf Materielles, also auf eine Leiblichkeit mit sich führte.
Wir [1] können danach die uns zunächst dargebotene Einheit von Leib und Geist und die uns zunächst dargebotene Idee des Zoon in der Tat auflösen, wir können die Verbindung zwischen Geistigem und speziell zwischen „Erlebnissen“ und Körpern durchschneiden, ohne darum eine distinctio realis im Sinne Humes bzw. der Scholastik zu vollziehen, [d.h.] eine Unterscheidung wesentlich unselbständiger, voneinander unabtrennbarer Momente eines Konkretums. A priori kann ein Körper sein ohne Leib, ohne Träger von Psychischem zu sein, und kann Psychisches sein ohne Anknüpfung an Leiblichkeit. Nachdem wir diesen ersten Schritt vollzogen haben, bedarf es eines neuen Schrittes. Wir scheiden nicht nur Geistigkeit ab, sondern wir vollziehen eine neue distinctio, nicht eine distinctio eidetica, unsubstanziell[??], die eigentliche distinctio phaenomenologica, bezogen auf das ideale Erfassen der Erlebnisse.
B II 19/10a "40"
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Ich [1] beginne heute damit, die Ausführungen der letzten Vorlesung ein wenig zu beschneiden. Ich habe insbesondere am Schluss der Vorlesung einiges gesagt, was für unsere Zwecke überflüssig ist und auch in der kurzen Darstellung nicht erweisbar und erwiesen ist. Zudem steht es im Gegensatz zu solchem, was ich in den letzten Jahren wiederholt vorgetragen habe.
Was wir brauchen, ist Folgendes: Ein materieller Körper ist ein Ding, eine Substanz. Darin liegt beschlossen, wie ich es ausführlich erörtert [habe] , es ist nicht bloß überhaupt Subjekt von Prädikaten, sondern eine Individualität, die identischer Träger von realen Eigenschaften ist, d.i. von dauernden Dispositionen, die in eigentümlicher, näher zu beschreibender Weise Titel für geregelte Gruppen wirklicher und möglicher Zuständlichkeiten und Verhaltungsweisen sind.
Materielle Körper sind erfahrungsmäßig öfter Leiber von Geistern. Auch Geister sind in einem dem Allgemeinsten nach analogen Sinn Substanzen. Nun zeigte die Wesensbetrachtung, dass, wenn wir den Substanzbegriff so weit fassen, Geist und Körper grundverschiedene Substanzen sind. Das Gemeinsame liegt in der bloßen leeren Form einer Einheit von realen Eigenschaften, bezogen auf empirisch geregelte Gruppen wirklicher und möglicher Zuständlichkeiten und Verhaltungsweisen. Aber dem materialen Wesen nach betrachtet, haben beiderlei Substanzen miteinander nichts gemein. Sie verhalten sich zueinander nicht wie zwei noch so weit voneinander abstehende Arten materieller Dinge oder zwei noch so weit abstehende Arten von Geistern. Sie sind durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt, sie können sich zwar verbinden und sind verbunden in der Einheit des Zoon, aber eine verbundene Einheit besagt nicht
[1] Beginn einer neuen Vorlesungsstunde (Samstag, 15. Juni 1912).
B II 19/10b "40"
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eine Substanz, in der reale Eigenschaften der einen und anderen Art sich durcheinander mischen. Vielmehr haben wir dann zwei Einheitsprinzipien geeinigt, zwei Regelungen formal gleichen Typus, aber verschiedenen Gehalts, jede in sich geschlossen; jede hat ihre Art von realen Eigenschaften, welche Zustände nach ihrem besonderen Typus regelnd einigt. Also die Ich-Einheit oder Einheit der Persönlichkeit und die Einheit des materiellen Dinges sind etwas total Verschiedenes. Eine psychische Disposition, ein psychischer Charakterzug wie etwa Liebenswürdigkeit kann nicht als physikalische Eigenschaft angesehen werden und ebenso umgekehrt. Dies tritt insbesondere auch hervor an der grundverschiedenen Rolle (auf die ich heute noch ergänzend hinweise), die die Räumlichkeit für beiderlei Substanzen spielt. Materielle Substanzen sind materielle Körper; und das sagt, es gehört zu ihrem Wesen, sich im Raum auszubreiten: die extensio gehört zu ihrem Wesen. Die Materie ist Raum erfüllende oder sich durch den Raum dehnende Materie. Dagegen Geister können im Raum nicht extendiert, sondern nur lokalisiert sein: Ich bin hier, der Andere ist dort; ich sehe in den Raum und die materielle Raumwelt von dem Hier aus hinein, der Andere von dem Dort aus. Aber es ist sinnlos, als durch das Wesen ausgeschlossen, dem Geist eine räumliche Ausdehnung zuzusprechen und demgemäß eine mögliche Figur. Der Geist kann einen Leib haben, das besagt, er ist mit einem materiellen Körper als seinem Leib verbunden. Dieser hat Extension, aber nicht der Geist selbst. Meine Persönlichkeit hat keine Figur, keine Größe usw., aber sehr wohl einen Ort, eine Lokalisation als die Stelle, von der aus sie z.B. wahrnimmt. Diese Lokalisation ist etwas Grundverschiedenes von der Extension.
Ebenso haben geistige Eigenschaften eine grundverschiedene Beziehung zum Raum gegenüber den physischen Eigenschaften. Und natürlich hängt eins und das andere a priori zusammen.
B II 19/11a "41"
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Überflüssig und irreführend war es gegen Schluss der Vorlesung, auf die ideale Möglichkeit der realen Trennung der beiden Substanzen zu rekurrieren, und ich bitte, was ich darüber, obschon in Kürze nur, gesagt habe, wegzustreichen. Es kommt für uns auch gar nicht darauf an, ob die beiden Substanzen und in welchem Sinn trennbar sind. Sinn und Grenzen der Trennbarkeit wesensmäßig zu bestimmen, das erfordert tiefere Untersuchungen. Wir brauchen sie hier aber nicht. Wir brauchen nur Klarheit darüber, dass es sich beiderseits um „Substanzen“ und dabei um grundverschiedene Substanzen handelt. Gehen wir weiter. Die erfahrungsmäßige Einigung, die sie unter dem Titel Zoon eingehen, besagt trotz der Wesensverschiedenheit der Einheitsprinzipien doch keine bloß kollektive Einheit. Vielmehr ist es eine Einheit höherer Stufe, die nach einem bestimmten höheren Typus die realen Eigenschaften des Leibes und des Geistes und demgemäß die Folge der beiderseitigen Zustände und Verhaltungsweisen nach empirischen Regeln verknüpft. Bezogen ist ein Geist nicht nur auf seinen Leib, sondern auch auf einen weiteren Kreis der materiellen Natur: sofern er ja in seinen äußeren Wahrnehmungen und sonstigen Bewusstseinserlebnissen materielle Dinge sieht, hört, von ihnen weiß etc. Zu seinem Leib hat er aber noch eine besondere Beziehung: die unter empirischen Regeln stehende Beziehung der Beseelung, die ein Komplex psychophysischer Grundbeziehungen ist; und empirisch vermitteln diese Regelungen auch solche des Geistes zu der weiteren Natur: gewisse physische Prozesse, die von den materiellen Dingen ausgehen, erregen im Leib und in gewissen Organen des Leibes die sogenannten physikalischen Prozesse, an welche sich empirische Empfindungen, Wahrnehmungen usw. im Geist als Folgen anknüpfen.
B II 19/11b "41"
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Das alles unterliegt wie empirischer so eidetischer Forschung. [Die] Forschung richtet sich einerseits auf die erfahrungsmäßig gegebenen materiellen Körper und körperlichen Vorgänge, auf die erfahrungsmäßig gegebenen Geister und Geistesprozesse, und endlich auf die psychophysischen Einheiten der Zoa und die zugehörigen Zusammenhangsregelungen. Andererseits, eidetisch ist zu erforschen das reine Wesen der materiellen Substanzen, der geistigen Substanzen und endlich der realen psychophysischen Einheiten, also die Idee des Zoon und die Idee einer psychophysischen Natur mit all den in reiner Wesenseinstellung zu vollziehenden Erwägungen der idealen Notwendigkeiten und Möglichkeiten, die diese Ideen einschließen, und der idealen Abwandlungen, die diese Ideen erfahren können, vor aller Erfahrung.
All diese Forschung hat es mit Substanzen und in Substanzen fundierten realen Einheiten zu tun. In dieser Hinsicht erweitert sie sich zur empirischen und eidetischen Erforschung der ganzen Welt. Sie ist Realitätsforschung überhaupt, sie geht von den niederen zu den höheren substanziellen Einheiten über. Sie zieht natürlich in ihren Kreis all die niederen und höheren substanziellen Einheitsbildungen, die zunächst in der Erfahrung sich darbieten, die dann aber in idealer Einstellung, über den Rahmen der erfahrungsmäßig substanzialisierten Wesen hinausgehend, nach möglichen Abwandlungen erforscht werden können.
Die Welt ist nicht bloß eine materielle und zoologische Welt. Die komplexen Einheiten, die wir Zoa nennen, sind nicht die einzigen Einheiten höherer Stufe, vielmehr dienen sie wieder als Elemente für substanzielle Einheiten höherer Stufe. Eine soziale Gemeinschaft ist nicht eine bloße Summe von Menschen, nicht bloß zeitlich koexistierend und sukzedierend und vermöge ihrer Leiblichkeit zur Einheit des Allraumes gehörend. Vielmehr stellt sich eine eigentümliche Verknüpfung zwischen den Einzelgeistern, zwischen den einzelnen Personalitäten der Gemeinschaft durch gewisse Einheitsformen her, die uns als Einheit der Sprache, der Sitte, des Rechtes usw. bekannt sind, der Religion, der Wissenschaft.
B II 19/12a "42/3"
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Alle solche Einheitsformen können in Abstraktion von den wirklichen Menschen betrachtet werden, setzen aber ihrem Wesen nach Menschen, allgemeiner: Zoa, auf Leiber gegründete Geister voraus. Die Gemeinschaften selbst, die durch solche Formen sich konstituieren, z.B. die Einheit einer Sprachgenossenschaft, eines Volkes, eines Staates, einer Stadt, einer Familie usw., sind nicht neue Substanzen im ursprünglichen und niedersten Sinn. Einigungen von physischen Dingen ergeben wieder physische Dinge. Einigungen von Menschen ergeben aber nicht wieder Menschen, aber reale Einheiten höherer Stufe, die in ihrem Wesen sowie in ihren empirischen Ausprägungen Objekte von wissenschaftlichen Forschungen sein können.
In dieser Weise fortschreitend, erforschen wir immerfort die Welt der Realitäten, wir treiben immerfort Realitätsforschung und zuoberst kosmologische Forschung, die dadurch charakterisiert ist, dass sie es durchaus mit substanziellen Einheiten und Einheiten dieser Einheiten zu tun hat, so weit Erfahrung und Idee hier irgend reichen mag.
Das ergibt also eine geschlossene Domäne von Wissenschaften. Es gehören hierher der enger geschlossene Kreis der physischen Naturwissenschaften [und] die Psychologie, dann der Kreis der biologischen Disziplinen oder vielmehr zoologischen nach dem weiteren Begriff des griechischen Wortes ζῷον, wohin also die Psychophysik gehören würde, [des Weiteren] die soziologischen Disziplinen, die Kulturwissenschaften jeder Art, die Geschichte. Und natürlich all die zugehörigen eidetischen Wissenschaften, die das Reine und Prinzipielle, eben das Eidetische zu erforschen haben.
[Die phänomenologische Reduktion als die für die Phänomenologie konstitutive Methode und ihre Bedeutung für die Erkenntnistheorie]
All diese empirischen und eidetischen Realitätswissenschaften setzen wir beiseite, wenn wir zur Phänomenologie übergehen.
Aber was kann dann übrig bleiben, wenn man in der Tat die gesamte Welt, ja die gesamten, nicht bloß wirklichen, sondern möglichen Welten, so wie sie in der Idee nach allen substanziellen Gestaltungen erwogen werden können, ausschaltet?
B II 19/12b "42/3"
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Was könnte da sonst übrig bleiben als jene formale Eidetik, die formale Mathesis im weitesten Sinne, die leerste Seins- und Mannigfaltigkeitslehre, die von Gegenständen überhaupt, Beschaffenheiten überhaupt, Beziehungen und Verknüpfungen überhaupt, Ordnungen überhaupt usw. handelt, unangesehen besonderer, die leersten logischen Formen material bestimmender Seinssphären?
B II 19/13a "44"
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Gehen wir wieder von der Idee des einzelnen Zoon und näher des einzelnen Geistes aus. Zu seinem Wesen gehört es, Einheit der Persönlichkeit zu sein, und darin liegt eine Einheit von Dispositionen, von Vermögenseigenschaften, die Regeln für empirische Klassen möglicher Erlebnisse ausdrücken. [1] Also mögliches Erleben gehört zum Wesen des Menschen, zum Wesen jedes Geistes. Erleben ist die Aktualität des Lebens, ohne Erleben sind Charakter, Persönlichkeit, Vermögen bloße Potenzialität des Lebens. Descartes meinte sogar, zum Wesen des Geistes gehört das aktuelle Erleben selbst oder, wie er sich ausdrückt, das Denken selbst. Der Geist denkt immer und notwendig. Darüber tun wir besser, kein Urteil abzugeben.
(Haben [2] wir auch den Substanzbegriff, der Analogie nachgehend, so weit gefasst, dass er materielles und geistiges Sein zusammenbefasst, so dürfen wir die Analogie nicht überspannen. Erlebnisse, Bewusstseinszustände sind Analoga der physischen Zustände, wie physikalische Eigenschaften Analoga der geistigen Eigenschaften, der Persönlichkeitseigenschaften sind. Aber während es evident zu machen ist, dass ein Körper, der in keinem physischen Zustand ist, ein Nonsens wäre, kann das Analoge für den Geist keineswegs ohne weiteres eingesehen werden.)
„Denken“ ist der cartesianische Ausdruck für dasjenige aktuelle Erleben, das wir lieber als Bewusstsein bezeichnen. Der Geist denkt, das sagt, er nimmt wahr, er stellt vor, er erinnert sich, erwartet, er urteilt, schließt, er fühlt, er hofft, fürchtet, will usw. Das alles sind nach Descartes modi cog[itandi] . Ein Körper, ein physisches Ding denkt nicht, es ist in physischen Zuständen begriffen, es ist höchstens ein Leib, von einer Persönlichkeit beseelt, die ihrerseits „denkt“. Bewusstsein ist ein umfassender Titel für wesenhaft zusammengehörige Erlebnisse. Ob alle Erlebnisse unter diesen Titel Bewusstsein zu begreifen sind, lassen wir vorläufig dahingestellt. Vielleicht, dass sich herausstellen wird, dass
[1] Randbemerkung: Cf. 46 [= B II 19/15 ??]
[2] Randbemerkung zu dem in Klammern stehenden Text: Mündlich nicht ausgesprochen, es ist auch bedenklich.
B II 19/13b "44"
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das Erleben, das da in einem gewissen prägnanten Sinn „empfinden“ heißt (z.B. Empfinden als Erleben von Farbinhalten, Toninhalten u. dgl.), zwar in gewissen Wesensbeziehungen zum Bewusstsein steht, aber nicht selbst als Bewusstsein, als modus cog[itandi] zu bezeichnen ist. In meinen Logischen Untersuchungen sprach ich von „intentionalen Erlebnissen“ und definierte dadurch einen bevorzugten Bewusstseinsbegriff, eben den ich auch in diesen Vorlesungen ausschließlich benütze (gegenüber anderen Begriffen, die das vieldeutige Wort Bewusstsein trägt). Intentionalität bezeichnet einen Grundcharakter, der allen Modis des „Bewusstseins“ wesentlich Einheit gibt. Was damit gemeint ist, macht man sich leicht klar: Bewusstsein ist Bewusstsein von etwas, ist in sich seinem Wesen nach auf etwas bezogen, und das drückt man gleichnisweise aus mit Intention: Das Erleben, das da Wahrnehmen heißt, ist in sich wahrnehmendes Bewusstsein von etwas; es ist ein Baum, ein Haus, ein Vogelgesang, ein Vogelflug usw. wahrgenommen. Das Erleben, das da Erinnern heißt, ist in sich Erinnerung an etwas, erinnerndes Bewusstsein von etwas. Ebenso ist Gefallen Gefallen an etwas, Werten Werten von etwas, Wollen Wollen von etwas usw.
B II 19/14a "45"
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Rekapitulation. [1] Nach den Ausführungen der letzten Vorlesung gibt es eine ideell geschlossene Gruppe von Wissenschaften, die sich alle einem obersten Wissenschaftsziel unterordnen, dem der Erforschung der ganzen Welt.
Die Welt, das ist ein Titel für das All der Realitäten niederer und höherer Stufe, also die bloß materiellen Dinge, die der Titel Natur im engeren Sinne abschließt, die Geister bzw. die beseelten Leiber, die wir Zoa, Menschen und Tiere nennen. Und des Weiteren die psychophysischen Gebilde höherer Stufe, die gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Einheiten wie Familie, Volk, Staat usw. Das Universum der Realitäten kann theoretisch erforscht werden nach Sein, Seinszusammenhängen, Seinsabhängigkeiten. Es [2] kann aber auch unter Wertgesichtspunkten und praktischen Gesichtspunkten betrachtet und erforscht werden, und so erwachsen mannigfache theoretische, normative und praktische Disziplinen. Die Erforschung kann dabei empirische sein, also bezogen auf die erfahrungsmäßig gegebenen Realitäten, oder sie kann eidetische sein, also nicht auf die wirkliche Welt, sondern auf die Idee möglicher Welt, möglicher Realitäten höherer und niederer Stufe rein ideal bezogen.
Wir sagten nun, alle diese Wissenschaften tun wir beiseite, wenn wir zur Phänomenologie übergehen. Damit sind fast alle bekannten Wissenschaften ausgeschlossen, alle Naturwissenschaften, die Psychologie, die Geisteswissenschaften, auch Geometrie, die reine Zeitlehre und Bewegungslehre, reine Mechanik usw.
Nicht ausgeschlossen ist bloß die formale Logik und die Disziplinen der formalen Mathesis, die reine Arithmetik, die formale Ordnungslehre, Mannigfaltigkeitslehre, die von Gegenständen überhaupt handelt, also nicht speziell von Realitäten, ebenso von Mengen, Ordnungen, Mannigfaltigkeiten überhaupt in einer eben nicht an die Idee
[1] Beginn einer neuen Vorlesungsstunde (Mittwoch, 19. Juni 1912).
[2] Randbemerkung: Ergänzung!
B II 19/14b "45"
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der Realität gebundenen Allgemeinheit. Nun schließen wir aber auch diese formale Logik und Mathesis überhaupt aus. Es scheint nichts mehr übrig zu bleiben.
Wir gingen nun daran zu zeigen, dass diese Ausschaltung, dieser Entschluss, von nun an nichts von empirischer oder eidetischer Realitätswissenschaft zu treiben und andererseits auch nichts von formaler Logik und Mannigfaltigkeitslehre, keineswegs das Ende aller wissenschaftlichen Forschung besagt, dass wir vielmehr gerade diese Epoché brauchen, um zur Phänomenologie zu kommen.
Wir gingen aus von der Idee des Geistes, zu dessen Wesen mögliches Erleben und näher mögliches Bewusstsein gehört. Bewusstsein ist Bewusstsein von etwas. Alles, was Descartes unter dem Titel cogitatio, die nach ihm das Wesensmerkmal des Geistes ausmacht, befasst, gehört hierher. Wahrnehmung ist Wahrnehmung von etwas, ein Urteil „beurteilt“ etwas, ein Wille geht auf ein Willensziel usw. Alle diese Erlebnisse sind „intentionale“ Erlebnisse, sie haben in sich selbst Beziehung auf etwas.
Was für Erforschungsfragen nun lassen derartige intentionalen Erlebnisse zu? Selbstverständlich psychologische Forschung bzw. geisteswissenschaftliche. Es genügt hier von der Psychologie als Wissenschaft vom individuellen Geist zu sprechen.
B II 19/15a "46" "15"
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Die Wissenschaft vom individuellen Geist ist eo ipso Wissenschaft wie von allen Geistesvermögen, von allen Sorten von Dispositionen, Persönlichkeitsmomenten, auch Persönlichkeitstypen, so auch von allen Geisteszuständen, geistigen Verhaltungsweisen, also auch von allen Sorten von intentionalen Erlebnissen. [1] Kann es eine andere Forschungsweise geben? Überlegen wir. Erlebnis ist in der Psychologie Erlebnis eines erlebenden Geistes und, vermöge der Gebundenheit des Geistes an einen Leib, Erlebnis von Menschen oder von Tieren dieser oder jener Tierarten. Haben aber nicht Erlebnisse in sich ein eigenes Wesen, mit dem sie direkt, als was sie eben selbst sind, erfasst werden können, ganz unabhängig davon, ob wir sie als Erlebnisse von erlebenden Geistern ansehen oder nicht? Haben wir nicht schon in der Beschreibung des Wesensbegriffes „Bewusstsein“ oder „intentionales Erlebnis“ auf dieses Eigenwesen in sich rekurriert und einen allgemeinsten Charakterzug darin bezeichnet?
[1] Randbemerkung: Das ist immer noch psychologische bzw. substanziale Untersuchung. Wir fragen also noch einmal: Kann es eine andere Erforschungsweise von Erlebnissen geben? – Selbstverständlich können wir, statt empirische Psychologie zu betreiben, in die eidetische Einstellung übergehen, also rationale Psychologie, Psycho-Eidetik betreiben: Nun, dann erforschen wir die Wesensartungen von Geistern, von geistigen Eigenschaften, geistigen Erlebnissen, also auch von intentionalen Erlebnissen als Erlebnissen von Geistern. Aber das meinen wir nicht.
B II 19/16a "47"
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Und können also nicht Erlebnisse rein für sich, in dieser unabhängigen, von aller Beziehung auf psychische und psychophysische Realität losgelösten Betrachtungsart wissenschaftlich erforscht werden? Das klingt ungewohnt, ja ganz befremdlich. Erlebnisse sind doch Erlebnisse von erlebenden Menschen und Tieren, wie sollten sie also anders erforscht werden als in den realen Zusammenhängen, denen sie doch zugehören, anders denn psychologisch und psychophysisch?
Wie sollen überhaupt Bestandstücke der Welt, die Einheit aller Realitäten ist, anders erforscht werden als im Zusammenhang der Welt? – Wir bezweifeln natürlich nicht, dass sie auch so erforscht werden sollen. Wir meinen aber, dass es Motive, Gesichtspunkte, Möglichkeiten gibt, die realwissenschaftliche, also psychologische und psychophysische Einstellung und Betrachtungsweise zu verlassen und die Erlebnisse in einer Weise zu studieren, welche alles, was der Titel Realität befasst, in gewissem Sinn ausschaltet. Wie ist diese Ausschaltung zu verstehen, die uns allererst die spezifische Domäne der Philosophie erschließen soll? Wie kommt diese „dist[inctio] phaenomenologica“ zustande, wie wir sie letzthin genannt haben? Sie besteht, kurz gesagt, darin, dass wir eine Art von wissenschaftlichen Forschungen unternehmen, in welchen wir radikal und ganz prinzipiell jedwede Setzung eines Seins der Natur, eines Seins von Geistern, eines Seins von Realität jedweder Art, also eines Seins von Welt im weitesten Sinn ausschließen, davon nicht den leisesten Gebrauch machen als Prämissen für unser Urteilen.
Solche Setzung kann doppelter Art sein: fürs Erste empirische Setzung. Das sagt, wir haben die Einstellung, die wir die erfahrende nennen, die Einstellung der empirischen Wissenschaft. Also wir machen empirische Wahrnehmungen, wir vollziehen Erinnerungen, Wahrnehmungen von materiellen Dingen und nehmen
B II 19/16b "47"
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diese Wahrgenommenen nun, als was sie sich in der Wahrnehmung geben, als wirklich Daseiendes. Oder wir machen Wahrnehmungen von Leibern und Geistern im gewöhnlichen Sinn des Wortes: Wir sehen um uns herum Menschen und Tiere, dieses Sehen ist ein Bewussthaben als das Seiende, ein als das Seiende setzen. In dieser erfahrenden Einstellung beschreiben und beurteilen wir die Geister, ihre individuellen Eigenschaften, ihre jeweiligen Erlebnisse, und in dieser selben Einstellung treiben wir Wissenschaft. So überall in der Realitätssphäre. Wir gewinnen Naturwissenschaft, Psychologie, Geisteswissenschaft im höheren Sinn als Kulturwissenschaft, Geschichte usw. In jedem Wort und Satz, die diese Wissenschaften aussprechen, liegt Setzung von realem Dasein.
Für Zweite: Wir können die eidetische Einstellung vollziehen. Auch dabei vollziehen wir Realitätssetzungen. Zwar setzen wir kein Reales als Daseiendes in dem Sinn, dass wir keine empirischen Existenzialurteile fällen und keine Aussagen machen, die solche ihrem Sinn nach einschließen. Aber wir setzen doch etwas, wir setzen Idee der Natur, Idee des Geistes, Idee des Menschen, Idee des Staates, des Volkes, des Rechts usw. Es ist dabei zu beachten, dass sich z.B. die Idee eines Naturseins oder eines Geistes [zu] denken noch nicht so viel heißt, als sie setzen, und wieder, dass die Setzung auch hier wahr und falsch sein kann. Die eidetischen Realitätsdisziplinen sollen gerade all das erforschen, was zu wahrhaft seienden Ideen von Natur, Geist usw. gültig gehört. Also die Urteile, die wir in diesen eidetischen Disziplinen fällen, vollziehen mit jedem Satz ebenfalls Seinssetzung bezogen auf Realität, nur nicht auf Realität als Tatsache, sondern auf Realität als Idee.
Beiderlei Seinssetzungen, beiderlei Urteilsarten seien von nun ab verpönt, so sehr als vergifteten sie gewissermaßen, auch wenn sie in einem noch so untergeordneten Punkt vollzogen würden, das eigentümliche Leben, den eigentümlichen Sinn der Forschungsweisen, die wir nun vollziehen sollen. Diese Ausschaltung verstehen wir mit dem Ausdruck „phänomenologische Reduktion“, die somit nicht verwechselt werden darf mit der eidetischen Reduktion, mit dem Übergang in die Einstellung der eidetischen Forschung, bei welcher überall nur prinzipiell reales Dasein als Faktum ausgeschaltet wird. Handelt es sich bei Letzterem um den Unterschied zwischen empirischer und apriorischer Wissenschaft, zwischen Tatsachenwahrheiten und rationalen Wahrheiten im leibnizschen Sinn,
B II 19/24a "48"
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so handelt es sich jetzt um den Unterschied zwischen Realitätswissenschaft und phänomenologischer Wissenschaft.
(Ich mache dabei aufmerksam, dass die Philosophen heutzutage gewöhnlich „Realwissenschaft“ als Tatsachenwissenschaft zu verstehen pflegen. Wir aber haben kein anderes Wort für das, was wir meinen. Seinem ursprünglichen Wortsinn nach passt es gewiss: Wissenschaft von Realität, die eben empirische und eidetische Wissenschaft von Realität sein kann.)
Ich sage nun: Erlebnisse und vor allem intentionales Bewusstsein können wir in der Tat studieren in „phänomenologischer Reduktion“. Mag sein, dass Erlebnisse faktisch der Welt angehören, dass sie in ihr auftreten als Erlebnisse von Personen. Es steht gar nichts im Weg, gleichgültig was uns dazu antreiben mag, die faktische Existenz der Welt außer Spiel zu lassen. Mag es eine Welt geben und geben können oder nicht, mag so etwas wie Personen mit gutem oder schlechtem Recht als seiend angenommen werden, mag selbst mein eigenes Ich sein oder nicht sein: Ich will davon nichts wissen, ich will von Setzung von Wirklichkeit und Möglichkeit von dergleichen [keinen] Gebrauch machen. Ich will einmal so tun, als wäre ich in dieser Hinsicht ein Skeptiker. Ist mit dem Wegstreichen jeder Realität und selbst Möglichkeit von Realität alles und jedes überhaupt weggestrichen? Soeben erlebe ich gewisse Wahrnehmungen, Urteile, Gefühle, Wollungen. Ich sehe in diesen Hörsaal hinein, dort sitzen Menschen, ich spreche zu ihnen, ich habe das Wohlgefühl des Lehrens, ich will sprechen und spreche usw. Nun [sei] alle Realitätssetzung durchgestrichen. Bleibt nichts mehr übrig? Nein. Evidenterweise bleibt über just der und der Bestand der Wahrnehmungen, die und die Gefühle, Wollungen usw., sie alle genommen als das, [als] was sie mir, wie sie da abfließen, in sich selbst gegeben sind. Mag es auch keine reale Welt geben, mag es sein, dass alle Dinge und Geister in diesem Raum nichts sind, dass ich selbst als reale Persönlichkeit nicht bin; meine jeweilige Wahrnehmung ist, was sie ist; in sich selbst, in ihrem eigenen absoluten Sein ist sie mir gegeben, sobald ich auf sie hinschaue und sie eben nehme, als was sie eben in sich selbst ist.
B II 19/24b "48"
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Aber was sagt diese Rede vom absoluten Sein der Wahrnehmung, vom „absoluten Sein“ des Gefühls in sich selbst, des Willensaktes, des Urteilserlebnisses „in sich selbst“ und [von] dem dieses absolute Sein erfassende „Schauen“? Bin ich in natürlicher Einstellung, so sehe ich 1) wahrnehmend diese Dinge da, urteile über sie usw. Sie sind meine Objekte: als empirische Realitäten erfasst und gesetzt. Ich kann dann fürs 2)te die Einstellung der sogenannten inneren Wahrnehmung und Erfahrung, der Locke‘schen Reflexion vollziehen und auf ihrem Grund Aussagen machen; dann ist das wahrnehmend Erfasste, Gesetzte und Beurteilte meine Wahrnehmung, die Wahrnehmung als mein Erlebnis [genommen] , ebenso in den parallelen Fällen das Gefühl als mein Gefühl, der Wille als mein Wille, als Zustand oder Betätigung meiner Persönlichkeit. Das ist wieder eine natürliche Einstellung, wenn auch eine reflektive. Aber nun gehe ich in eine 3)te Einstellung über. Ich schneide die Realitätssetzung ab. Ich vollziehe sie nicht, ich setze sie gleichsam in Klammern. Ich nehme nun die Wahrnehmung, das Gefühl, das jeweilige Erlebnis in sich selbst. Die Erlebnisse sind freilich in der Auffassungsweise als meine Erlebnisse bewusst. Ich mag sie sogar in der Auffassung belassen. Ich mache dabei aber eine prinzipielle und überall mögliche Änderung: Anstatt in der natürlichen Seinssetzung zu leben, anstatt die Auffassung als mein Gefühl, meine Wollung (meine: dieser empirischen Person) im Modus natürlich-naiver Setzung zu vollziehen, übe ich eine Epoché, ich schalte die Setzung aus. Das Erlebnis bleibt, was es ist. Das volle Erlebnis ist jetzt nicht bloß das Gefühl, die Wollung, die Wahrnehmung, sondern dieses in der „Auffassung“ mein Gefühl, meine Wollung, meine Wahrnehmung. Diese Mein-Beziehung als Auffassung ist auch Erlebnis. Aber ich nehme auch diese komplexen Erlebnisse rein in sich, ich setze mich nicht als wirklich seiende Person, ich setze das Erlebnis also nicht als Zustand meines, dieses daseienden Menschen, dieser daseienden Persönlichkeit.
B II 19/25a "49"
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In aller natürlichen Einstellung, mag sie solche der äußeren oder inneren Wahrnehmung, der äußeren oder inneren Ideation sein, stecken Daseinssetzungen bzw. Setzungen von Realitätsideen, und diese Setzungen nehme ich zurück, ich setze sie in Klammern, ich vollziehe phänomenologische Epoché und eben durch sie phänomenologische Reduktion. Die psychischen Zustände sind nun nicht mehr psychische Zustände, die psychischen Akte sind nun nicht mehr psychische Akte: nämlich im natürlichen Wortsinn sind sie es nicht. Zum Begriff des Zustandes gehört es, Zustand eines Realen zu sein. Den Zustand als solchen setzen, heißt also, das Reale selbst setzen, dessen Zustand es ist. Habe ich die Realität ausgeschaltet, so habe ich auch die Zuständlichkeit als solche ausgeschaltet, und doch bleibt in jedem Fall, wo ich den Blick auf das Erlebnis richte, der ganze eigene Gehalt des Erlebnisses übrig und nur seine reale Setzung als Zuständlichkeit der Person, als ihr Erlebnis im natürlichen Sinn ist fortgefallen. Und wie keine empirische Realität, nichts von empirisch substanzialem Sein, so ist auch nichts von eidetischer Realität, nichts von idealem Sein von Substanzialem gesetzt. Sowie ich phänomenologische Reduktion vollziehe und auf die rein phänomenologischen Erlebnisse mich einschränke, habe ich nicht die leiseste Voraussetzung gemacht, geschweige denn Behauptung darüber, ob materielle oder geistige Substanzen und Substanzen überhaupt in Wahrheit ideales Sein haben, oder, was damit äquivalent ist, ob dergleichen überhaupt a priori möglich ist. Die reduzierten Erlebnisse enthalten davon nicht das Mindeste. Sie in der Reduktion erforschen, heißt also, in keiner Weise Behauptungen machen oder gar solche voraussetzen in Betreff der geometrischen, temporalen, überhaupt irgendwelcher real-ontologischer Wesenheiten.
B II 19/26a "50"
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Es kann hier natürlich noch nicht klar sein, inwiefern durch den Vollzug phänomenologischer Reduktion wirklich ein fundamentaler Schritt der Erkenntnis geleistet und ein wertvolles Feld wissenschaftlicher Forschung gewonnen sein soll. Zunächst kommt alles darauf an, dass man den Sinn der Reduktion nicht verfehle und ihr nichts unterschiebe, was sie nicht fordert.
Aus unserer bisherigen Charakteristik geht hervor, dass Phänomenologie als Wissenschaft von den reduzierten cogitationes nicht und prinzipiell nicht deskriptive Psychologie ist, auch nicht, wenn man den Terminus deskriptive Psychologie sehr eng fasst und so sehr, dass man ihn auf die Gegebenheiten direkter innerer Erfahrung bezieht, also zuletzt der sogenannten inneren Wahrnehmung. Leider habe ich selbst dem Missverständnis Vorschub geleistet, sofern ich am Anfang des zweiten Bandes meiner Logischen Untersuchungen selbst sagte, Phänomenologie könne in gewissem Sinn als deskriptive Psychologie gefasst werden, sofern sie die rein immanent gegebenen Erlebnisse nach ihrem rein immanenten Gehalt beschreibe und ihrem Wesen nach analysiere. Indessen zeigt der ganze weitere Gehalt meiner Untersuchungen (von einigen psychologischen Exkursen abgesehen), dass zwar phänomenologische Forschung in weitem Maße mit psychologischer zusammen und parallel läuft, sofern es selbstverständlich auch eine Aufgabe der Psychologie ist, die menschlichen Seelenerlebnisse, die Wahrnehmungen, Urteile usw. nach ihrem immanenten Gehalt zu fixieren; dass aber die Ausschaltung aller Realitätssetzung, die in den phänomenologischen Untersuchungen tatsächlich geübt war, doch eine radikale Bedeutung besitzt, die das phänomenologische Gebiet zu einem völlig selbständigen macht und der Phänomenologie eine Bedeutung gibt, die weit über die empirische Psychologie, ja auch über die allgemein übersehene rationale weit hinausreicht.
B II 19/26b "50"
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So muss ich, wie es schon seit vielen Jahren in den Vorlesungen immer wieder geschehen ist, darauf Wert legen, die Phänomenologie von jeder Psychologie zu sondern. Insbesondere innere Wahrnehmung, innere Erfahrung haben in der Phänomenologie keine Heimatstätte: Wir haben ja vorhin schon davon gesprochen, dass solche Erfahrung reales Dasein setzt, und gerade diese Realitätssetzung muss eingeklammert werden, also darf auch kein Erfahrungsurteil ausgesprochen werden.
Was die Phänomenologie zudem von der empirischen Psychologie trennt, ist der Umstand, dass aus Gründen, die wir noch besprechen werden, die Phänomenologie sofort den Charakter einer Eidetik der reduzierten Erlebnisse annimmt, wie denn auch schon die Stücke einer Phänomenologie der Erkenntnis, die der zweite Band meiner Logischen Untersuchungen zu entwerfen versucht, durchaus eidetischen Charakter haben. Die Psychologie ist aber Erfahrungswissenschaft, wenigstens die Psychologie im gewöhnlichen Sinn. Von der Möglichkeit einer eidetischen Wissenschaft vom Menschen, vom Geist als Realität will man ohnehin nichts wissen, und ich selbst habe damals von solcher Eidetik des realen Geistes gegenüber einer Eidetik der Phänomene selbst nichts gewusst.[1]
Nicht minder wichtig ist Folgendes. In Betreff des Seins (des realen wie idealen) jedweder Realität üben wir Epoché. Dass das möglich ist, dürfen wir als absolut sicher hinstellen. Es ist zweifellos und nicht etwa als bloßes Faktum möglicher Erfahrung, sondern a priori und apodiktisch evident, dass wir jede vollzogene Setzung unterbinden, in Klammern setzen können. [2] Oder, was damit äquivalent ist und worauf es uns, da wir eine Wissenschaft begründen wollen, ankommt: In der Sphäre möglicher Urteile, möglicher Aussagen, können wir jedes vollzogene Urteil wieder zurücknehmen und es durch eine Infragestellung, ein Dahingestelltseinlassen ersetzen. Ebenso können wir eine derartige Epoché im Voraus für ganze Klassen von möglichen Urteilen vollziehen. Würden wir sie in universellster Allgemeinheit vollziehen, dann wäre keine aktuelle Behauptung mehr da und von der Begründung einer Wissenschaft wäre keine Rede mehr.
[2] Randbemerkung: Epoché im Allgemeinen.
B II 19/27a "ad 50"
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Wir [1] haben in der letzten Vorlesung darauf Wert gelegt, deskriptive Psychologie und Phänomenologie zu sondern. Gestrichen: Wie die deskriptive Botanik das Pflanzenreich, so wie es in der Erfahrung als eine vielgestaltige Mannigfaltigkeit konkreter Realitäten gegeben ist, beschreibt und klassifiziert, so wie sie in verschiedener Allgemeinheitsstufe Leben, Wachstum, Fortpflanzung, kurzweg alle morphologischen Vorkommnisse im Reich pflanzlicher Realität begrifflich festlegt, dabei eventuell auch experimentell vorgeht und untersucht, wie unter Abwandlung der konkret erfahrbaren realen Umstände sich die Formen, die Entwicklungen u. dgl. entsprechend abwandeln und neue morphologische Vorkommnisse auftreten lassen: so auch die deskriptive Psychologie hinsichtlich der Menschen und Tiere und hinsichtlich des Geisteslebens der Zoa in allen seinen besonderen und besondersten Gestaltungen. Ende der gestrichenen Stelle. Die deskriptive Wissenschaft ist überall Wissenschaft in Erfahrungseinstellung und überall Wissenschaft im Rahmen der aus der Erfahrung direkt zu entnehmenden morphologischen Allgemeinheit; sie geht den morphologischen Gestaltungen der individuellen Konkreta nach, sie beschreibt, klassifiziert und geht morphologischer Allgemeinheit der Entwicklung nach. Ihr gegenüber vollzieht abstrakte nomologische Wissenschaft Erklärung im spezifischen Sinn, deren Intention auf exakte Gesetzmäßigkeiten geht und auf Begreifen der Konkretionen durch Rückbeziehung auf exakte Allgemeinheiten und Gesetzmäßigkeiten. Im Grunde genommen ist die Psychologie, so wie sie gegenwärtig vorliegt, ganz und gar deskriptive Psychologie, bis auf die Stellen, wo sie in die Physiologie übergeht und in dieser mit der Hereinziehung der wirklich nomologischen Physik und Chemie eben die Sphäre wirklicher Nomologie betritt oder zu betreten tendiert. Mit gehört nun jedenfalls zur deskriptiven Psychologie die Beschreibung aller erfahrungsmäßig konstruierbaren Gattungen und Arten von Erlebnissen, näher von cogitationes.
B II 19/27b "ad 50"
Transcription
Erfahrungsmäßig finden wir das Geistesleben vor, und zwar in innerer Erfahrung finden wir uns vor als wahrnehmend, phantasierend, urteilend usw.; und alle diese Artungen von Erlebnissen zu beschreiben, so wie sie wirklich in der Erfahrung vorkommen, ist eine selbstverständliche Aufgabe. Sofern sich nun die Phänomenologie als Wissenschaft vom reduzierten Bewusstsein mit all diesen Arten auch beschäftigt, ist ihre innige Beziehung zur deskriptiven Psychologie zutage liegend. Nur dass es [sich] eben auf der einen Seite um Forschung innerhalb der Reduktion handelt, bei der die gesamte reale Welt urteilsmäßig außer Setzung verbleibt, während das Gegenteil auf psychologischer Seite der Fall ist. Die Beziehung geht so weit, dass man sagen kann, dass jede Feststellung der Phänomenologie und insbesondere der phänomenologischen Wesenslehre, die wir noch näher definieren werden, für die Psychologie von Bedeutung ist, und dass überhaupt die Ausbildung einer reinen Phänomenologie eine grundlegende Bedeutung für eine wissenschaftliche empirische Psychologie beanspruchen muss. Andererseits aber kann man eine reine Phänomenologie keineswegs um dessentwillen als bloßes unteres Stockwerk der Psychologie ansehen. Es stellt sich vielmehr heraus, dass sie in ihrem Sinn und ihren Leistungen über alle Psychologie weit hinausreicht, sofern sie die Urquelle und Urdomäne aller echten Vernunftkritik und Metaphysik ist, und das ist eben vermöge der phänomenologischen Reduktion. Aber das kann hier noch nicht verständlich werden. Hier genügt es, bloß den radikalen Differenzpunkt damit zu bezeichnen, dass eben Psychologie Realitätswissenschaft, wie man auch sagt Naturwissenschaft ist. Die Phänomenologie aber nicht. [1]
[1] Randbemerkung: Bis hier Einlage.
B II 19/28a "51"
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Aber so weit wollen wir ja nicht gehen. Das Feld der phänomenologischen Epoché ist zwar unendlich, aber nicht allumfassend. Es ist das Feld der Urteile über Realität. Wir verhalten uns da analog wie die Skeptiker, die alle Welt, das Universum der Realitäten leugnen, aber [wir verhalten uns] doch nicht wirklich als Skeptiker, denn wir negieren nicht die Existenz der Realitäten, wir negieren auch nicht die Möglichkeit der Erkenntnis von Realitäten; wir unterlassen nur jede urteilende Stellungnahme zu solchen Realitäten: Wir unterlassen es, über ihr wirkliches Dasein und über die Geltung entsprechender Ideen ein Urteil zu fällen, oder vielmehr in unserem Rahmen ein Urteil zu benützen.
(Sie [1] ahnen wohl schon, dass gerade darin die Bedeutung der Phänomenologie für die Erkenntnistheorie gründen wird, und näher für die Theorie der Möglichkeit einer Erkenntnis von realer Wirklichkeit. Der Skeptizismus bezweifelte oder leugnete die Möglichkeit einer „transzendenten“ Erkenntnis, und gemeint war damit in erster Linie die Erkenntnis einer realen Welt, die „an sich“ ist gegenüber dem erkennenden Bewusstsein. Zunächst richtet sich die Skepsis gegen die Möglichkeit einer Erkenntnis an sich seiender physischer Dinge, da wir doch bloß die Dingphänomene haben. – Da wir von anderen Personen nur wissen durch Einfühlung, also aufgrund der Erfassung ihrer Leiblichkeit, so richtet sich die Skepsis auch gegen die Möglichkeit der Erkenntnis fremder Geister und [fremden] Bewusstseins. Und endlich auch gegen die eigene Seele als Substanz der inneren Phänomene. Durch den Skeptizismus tritt es also hervor, dass die Möglichkeit jeder Erkenntnis von Transzendentem – und alles Reale ist transzendent – mit großen Schwierigkeiten, Unklarheiten behaftet sei, ja uns in absoluten Widerspruch zu verwickeln scheine. Sollen diese Schwierigkeiten behoben, soll die Möglichkeit, das Wesen solcher Erkenntnis wissenschaftlich aufgeklärt und der Skeptizismus widerlegt werden, dann müssen wir selbstverständlich im gesamten Rahmen der zu führenden Untersuchung das als problematisch behandeln, was in ihr problematisch ist. [2] Ist alle Realitätserkenntnis problematisch, so darf also in der Untersuchung, die das Problem lösen soll, keine Aussage gemacht, kein Schritt vollzogen werden, der wirkliches Sein von Realem setzt; es könnte ja diese Setzung selbst nur Recht haben, wenn sie es erkenntnismäßig auswiese. Entweder also es kann phänomenologische Untersuchung, es kann eine Untersuchung
[1] Ergänzung: Das Folgende: Bedeutung für die Erkenntnistheorie.
[2] Randbemerkung: Erk[enntnis] .
B II 19/28b "51"
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wissenschaftlich, im Rahmen einer absoluten Epoché in Ansehung aller Realität, geführt werden, oder eine Theorie der Möglichkeit von Realitätserkenntnis ist prinzipiell unmöglich und eine Erkenntnistheorie, soweit sie sich dieses Ziel setzte, ein Nonsens. Also das Gebot der phänomenologischen Reduktion in einer Erkenntnistheorie [zu] verletzen, hieße einen Zirkel [zu] begehen. Unsere Reduktion ist also das kardinale Gebot jeder echten Erkenntnistheorie.)
Sie verstehen ferner, dass es ein Grundirrtum wäre, phänomenologische Forschung als solipsistische anzusehen. [1] Phänomenologische Reduktion besagt nicht Einschränkung der Erkenntnis auf den Bereich der Forschung des eigenen Ich mit seinen Erlebnissen. Gewiss erfordert es die Reduktion, dass der phänomenologisch Forschende wie die ganze Welt so auch Menschen, alle Ich ausschalte. Aber die ganze Welt besagt nicht nur die ganze Außenwelt, und alle Ich besagt auch das eigene Ich, die eigene reale Person. Nicht berührt bleiben nur die reduzierten Erlebnisse, die eben in sich keine Realitäten sind, sondern höchstens das, worin sich Realität bewusstseinsmäßig bekundet. Der Phänomenologe erforscht nicht sich und seine Zustände, sondern er erforscht die absoluten Phänomene, deren Sein ein Sein in sich ist und als das evident erfassbar ist. Man kann übrigens leicht zeigen, dass die widersinnige Erkenntnistheorie und Metaphysik, die da Solipsismus heißt und die lehrt „nur das eigene Ich ist erkennbar“ oder gar „nur das eigene Ich ist“, nur in der Verwechslung zwischen der Einstellung echter erkenntnistheoretischer Immanenz (nämlich der phänomenologischen) und der der Einstellung psychologischer Immanenz seine Quelle haben müsste.
[1] Randbemerkung: Gehört das nicht auch zur Erkenntnistheorie?
B II 19/29a "53"
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Es könnte jemand einwenden: Die phänomenologische Reduktion mag sonst vielleicht eingängig sein; fordert sie aber die Ausschaltung des eigenen Ich, so fordert sie Unmögliches. Auf das reine Bewusstsein, auf die cogit[atio] in sich selbst soll reduziert werden. Aber weist uns die immer und a priori mögliche Frage: „auf wessen reines Bewusstsein, auf wessen cog[itatio] “ nicht darauf hin, dass eine cog[itatio] schlechthin nicht denkbar ist ohne das cogito? Descartes hatte also recht, die Evidenz des Seins der cogitatio und die Evidenz des cogito in eins zu setzen.
Wir antworten darauf: Ausschaltung der Realität und Reduktion auf das reine Bewusstsein besagt ja nicht: Behalten der cog[itationes] und Abtrennen derselben von der Realität bzw. Behaupten, dass die cog[itatio] möglich und sogar denkbar sei ohne Realität. Darüber sagen wir gar nichts. [1] Die Reduktion fordert nur von uns, dass wir von aller und so auch von unserer eigenen Realität schlechthin keinen Urteilsgebrauch machen. Dass die jeweilige cogit[atio] , z.B. ein einzelnes Erlebnis des Wahrnehmens, nicht selbst das ist, was wir reales Ich, reale Person nennen, oder es in sich enthält, das ist ganz evident. Sollte sich herausstellen, dass in einem gewissen anderen Sinn das cogitative Erlebnis nicht gedacht werden könnte, es sei denn als cogito, dass also doch ein Ich notwendig dabei ist, dann könnte das nur heißen, dass vom realen Ich zu unterscheiden sei ein reines Ich, welches im Rahmen phänomenologischer Reduktion an jedem Erlebnis oder als Beziehungspunkt jedes Erlebnisses, oder mindest jedes intentionalen,
[1] Randbemerkung: S[iehe] 54a [= B II 19/30a??]
B II 19/29b "53"
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aufweisbar sei. Vor der Phänomenologie haben wir darüber nichts zu sagen. Aber klar ist, dass, wenn es so ist, es selbst eine phänomenologische, aber innerhalb der phänomenologischen Epoché gewonnene Erkenntnis wäre. Genauso verhält es sich mit der objektiven Zeit als Form der individuellen Realitäten. Schalten wir sie aus und bleibt dann doch Zeit übrig, dann ist es eben eine phänomenologische Feststellung, dass zum Wesen jeder cogit[atio] eine Zeit, nicht die ausgeschaltete, sondern die eben zur cog[itatio] selbst gehörige, an ihr einsichtig zu machende, gehöre.
B II 19/30a "54"
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Sie [1] verstehen nun auch, wodurch sich die phänomenologische Reduktion von derjenigen unterscheidet, die in der cartesianischen Fundamentalbetrachtung mit ihrem de omnibus dubit[andum] ihre Rolle spielt. Descartes vollzieht seine methodisch-skeptische Reduktion in Absicht auf die Begründung einer absoluten Wissenschaft; und das sagt für ihn: Begründung endgültiger Wissenschaft auf absolut zweifellosem Grund und nach Methoden, die in jedem Schritt selbst als absolut gültig sich auszuweisen vermögen. Dergleichen fordert nach ihm also den methodischen Zweifel. Wir begeben uns in die Einstellung eines, wenn möglich universellen Zweifels oder, wie es besser heißen sollte, wir stellen alles infrage und sehen da zu, ob wir nicht mindest einen ersten archimedischen Punkt finden können, ob wir nicht auf eine erste Seinssetzung stoßen, bei der jede Bezweiflung als sinnlos dastände.
Natürlich können wir dieses Vorgehen auch mitmachen, und können es, mögen wir privatim von Absichten auf Begründung absoluter Wissenschaft geleitet sein oder nicht. Wir können es, um den Boden der Phänomenologie, und zwar als einen in der Tat absoluten, außer allem vernünftigen Zweifel stehenden, zu gewinnen. Wie Descartes können wir sagen: Wie weit Zweifel getrieben und mit welchem Recht immer getrieben werden mag, das ist absolut sicher, dass das eventuelle Recht der Zweifelhaftigkeit des Bezweifelten niemals das Recht der Setzung des Zweifels selbst als eines Seienden beschränken kann. Zweifle ich z.B. an der Existenz eines Naturobjektes, so mag dieser Zweifel seine Gründe haben, aber das Sein des Zweifels selbst, wie ich ihn in der Reflexion selbst und absolut gegeben finde, ist nicht selbst wieder zweifelhaft. Und was vom Zweifel gilt, gilt von jeder cogitatio. Die cogitationes in dem schlicht auf sie gerichteten erfassenden Blick sind absolute Gegebenheiten, also gewinnen wir das phänomenologische Feld und ersehen zugleich, dass es ein Feld absoluter Gegebenheit ist. [2]
[1] Randtitel: Cartesianische Reduktion.
[2] Randbemerkung: „Absolut gegeben“ besagt doch nicht ohne weiteres „zweifellos gegeben“.
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Ein Reales der Natur ist auch gegeben, d.i. wir erfahren es, wir nehmen es wahr. Aber das gesehene Ding ist nicht absolut gegeben, es ist vielmehr gegeben durch wechselnde Dingerscheinungen, es stellt sich dar, einmal von der Seite, das andere Mal von jener, einmal in dem Zustand, das andere Mal in jenem. Jeder solchen Gegebenheitsweise entsprechen bewusstseinsmäßig verschiedene Erscheinungen. Dass das Ding so und so erscheint, das ist absolut gewiss, das ist die Gegebenheitsweise der cogitatio. Aber jede Erscheinung lässt es offen, dass das Erscheinende, obschon es als selbstgegenwärtig, genauer als leibhaft und wirklich daseiend erscheint, doch nicht ist. Jede Erfahrung kann im Fortgang der Erfahrungen diskreditiert werden; von ihm hängt es ab, ob wir die Erfahrungssetzung durchhalten können und sagen: Das Erscheinende bestätigt sich immerfort als wirklich. Oder ob wir sagen müssen: Es erweist sich als Illusion, als Realitätsschein und nicht als wirkliche Realität. Diese eigentümliche Situation ist einzusehen als etwas zum Wesen aller Setzung von physischer Realität als erscheinender Realität, als sich darstellender, notwendig Gehöriges. Das perzeptive Erscheinen aber von Realem, das Sich-Darstellen, das Erlebnis der Dingwahrnehmung ist nicht selbst wieder etwas, das sich bloß darstellt, das erscheint, und das bald so, bald so erscheinen, sich im Fortgang des Erscheinens bestätigen oder widerlegen kann. Das Erscheinen, das Bewusstsein, die cogit[atio] , die da Wahrnehmen des Baumes heißt, bringt etwas anderes nicht absolut Gegebenes zu Erscheinung, aber sie selbst ist im schlichten Hinblick darauf absolut gegeben und nicht wieder durch eine [da] hinterliegende Erscheinung gegeben. Das Reale ist dem Bewusstsein „transzendent“ (wie man nicht ganz deutlich zu sagen pflegt), das Bewusstsein selbst ist aber dem darauf gerichteten Bewusstsein des inneren Hinblickens immanent.
Hat danach Descartes die phänomenologische Sphäre gewonnen und sie für die Philosophie erschlossen? Leider müssen wir sagen: nein. Seine methodische Zweifelsbetrachtung und Infragestellung, die im Wesentlichen auf Augustin zurückgeht, leidet an dem kardinalen Versehen, dass zwar die äußere Realität ausgeschaltet wird, aber nicht die Realität des eigenen, erkenntnistheoretisch reflektierenden Ich.
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Descartes sagt „Cogito ergo sum“ und gewinnt die Substanz cogitans. Die strengste Konsequenz in der Durchführung der Tendenz auf eine absolute Erkenntnisbegründung, die recht verstanden die Lebensfrage der Vernunftkritik und Metaphysik ist, fordert aber die Ausschaltung aller Realität. Auch das Ich und auch das eigene Ich, das da cogitat, ist nicht absolut gegeben, sondern nur gegeben, indem es sich bekundet in den jeweiligen cogitationes. Das, was ich mit dem Wort Ich im „ich denke“, ich nehme wahr, ich phantasiere, ich urteile, will bezeichne, ist die denkende Person, und wenn sie auch nicht gegeben ist wie das „äußere“ Ding, wie ein Haus, ein Baum, durch Wahrnehmungserscheinungen, durch Abschattungen, durch wechselnde Darstellungen, in denen das als leibhaft und wirklich daseiend Bewusste sich von verschiedenen Seiten, von oben und unten, auch von nah und fern usw. darstellt, so besteht doch insoweit Analogie, als die Identität der Person sich nicht deckt mit dem Fluss der cogit[ationes] , sondern in ihnen sich bekundet, in der geregelten Weise ihres Ablaufes sich erfahrungsmäßig ausweist und bestimmt charakterisiert.
Man kann sich sogar davon überzeugen, dass erst auf dem Umweg über die Einfühlung, in welcher andere Leiber zu Trägern von Bewusstseinszusammenhängen werden, das Eigentümliche der Persönlichkeit hervortritt, sich Persönlichkeit von Persönlichkeit unterscheidet, und dass das eigene Ich als Persönlichkeit sich erst bewusstseinsmäßig konstituiert in dieser Unterscheidung vom Du und Er. Damit ist aber jedenfalls wieder gesagt, dass auch das Ich als Person nicht absolut gegeben ist in dem Sinn, wie es die cogitationes und ihre eigenen Verflechtungen sind. Also verlangt radikale Erkenntnistheorie, wie wir von vornherein sahen, die phänomenologische Reduktion in unserem Sinn, die entschlossene und vollbewusste Epoché, welche das nur als gegeben zulässt, was absolut gegeben ist, was nicht sich erst darstellt, sich allererst bekundet, was im Fortgang des Bewusstseins sich allererst bestätigen muss und
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eventuell als nichtseiend verworfen werden muss. Über meine Person kann ich mich in jeder Hinsicht täuschen, also ist es auch erkenntnistheoretisch problematisch, ob ich in Wahrheit überhaupt so etwas wie ein Ich, eine Persönlichkeit habe. Es ist genauso zweifelhaft wie, ob äußere Wahrnehmung, wie sie im Einzelnen täuscht, nicht immer täuschen könnte, ob also so etwas wie Naturding, körperliches Ding überhaupt ist. Und jedenfalls ist das Problem, wie dergleichen transzendentes Sein, sich darstellendes, sich bekundendes Sein gültig gegeben sein kann, was Sinn und Recht dieser Gegebenheit ausmacht, ein vernünftig zu stellendes, ja ein notwendiges. Das absolute Gegebensein der cogit[atio] selbst ist dabei aber vorausgesetzt und kann ein eigenes Feld der Erkenntnis abgeben, die von allem Problematischen der Realitätserkenntnis frei bleibt.
Descartes hat aber nicht nur darin gefehlt, dass er die Realitätssetzung des eigenen Ich auszuschalten unterlassen hat, sondern auch darin, dass er es gar nicht gesehen hat, dass das Feld der cogit[atio] , auf das er doch, wenn auch nicht in reiner Reduktion stieß, ein eigenes Arbeitsfeld sei, ja das eigentliche Feld aller auf letzte Wissenschaft (auf absolute Wissenschaft im einzig berechtigten Sinn) gerichteten Forschung. Das sagt ebenso viel wie gerichtet auf Vernunftkritik und Metaphysik in einem weitesten Sinn.
Wir bewegen uns hier allerdings in Überlegungen, die insofern außerhalb unserer eigenen Lehren liegen, als wir die Notwendigkeit einer Phänomenologie direkt zu begründen unternehmen wollten. Wir stellten nicht als unser Ziel hin die Begründung absoluter, auf letzte Quellen zurückgehender, das Sein im letzten und absolut geklärten Sinn herausstellender Wissenschaft. Wir sprachen es nicht als unser Ziel aus, Metaphysik zu bauen oder gewisse, allen natürlich erwachsenen Wissenschaften anhaftende Schwierigkeiten zu beseitigen und sie dadurch zur Stufe absoluter Wissenschaften zu erheben. Wir ließen uns also nicht leiten von den Schwierigkeiten, die der Skeptizismus zutage gebracht hat, und uns nicht erst fortleiten zur Notwendigkeit einer Erkenntniskritik und Vernunftkritik überhaupt sowie einer durch sie zu leistenden vernunftkritisch geklärten Wissenschaft. Lässt sich das Forschungsfeld der Phänomenologie aufweisen, lässt sich ein direkter Weg dazu finden, durch das, was wir phänomenologische Reduktion nannten, lässt sich einsehen, dass hier ein Feld möglicher …[1]
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Rekapitulation. [1] Am Schluss der letzten Vorlesung verglichen wir die phänomenologische Reduktion mit der cartesianischen, d.i. mit der bekannten methodisch-skeptischen Reduktion, durch welche Descartes die absolut zweifellosen Ausgangspunkte zu gewinnen hofft für eine absolute Begründung menschlicher Erkenntnis und Wissenschaft. Allerdings sind die Zwecke, die wir mit unserer Reduktion verfolgen, nicht identisch mit denjenigen, die Descartes mit seiner skeptischen Reduktion im Auge hatte. Wir haben uns nicht eine universelle Wissenschaftsreform vorgesetzt, einen systematischen Bau aller Wissenschaft auf absolut zweifellosem Grund. Für uns waren die Schwierigkeiten, die der Skeptizismus hinsichtlich der Möglichkeit der Erkenntnis empfindlich gemacht hatte, keine ausgesprochenen Motive der Untersuchung. Unser Ziel war daher auch nicht Kritik der Vernunft, die ihrerseits Vorbedingung für eine absolute Erkenntnisbegründung und für eine echte Metaphysik ist. Wir wollten einfach ein neues Forschungsfeld und damit die Notwendigkeit einer neuen Wissenschaft, der Phänomenologie, aufweisen, und das geschieht durch Eintritt in jene eigentümliche Einstellung bzw. eigentümliche Urteilsepoché, die wir phänomenologische Reduktion nannten. Andererseits stellen sich freilich bei tieferer Erwägung in Hinsicht auf Descartes‘ Meditation Zusammenhänge und Zusammenstimmungen heraus. Nämlich es stellt sich heraus, dass das Ziel einer absoluten Erkenntnisbegründung, wiederum das Ziel einer radikalen Lösung der Schwierigkeiten des Skeptizismus, von sich aus das Anheben mit einer gewissen Epoché fordert. Und das ist das Geniale der cartesianischen Überlegungen, dass er dies erkannt hat. Erwägt man aber bis auf den Grund, was solche Ziele fordern und was nicht weggetan werden kann, wenn die auf sie gerichtete Untersuchung [nicht] in fehlerhafte Zirkel auslaufen soll, so stellt sich
[1] Beginn einer neuen Vorlesungsstunde (Samstag, 29. Juni 1912).
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heraus, dass die Epoché genau die phänomenologische sein muss. Und damit gleichwertig ist die fundamentale Erkenntnis, dass alle natürlich erwachsene Erkenntnis und Wissenschaft, alle rein sachlich gerichtete, dogmatisch ist; dass sie eine Dimension von Schwierigkeiten, eben die skeptischen Schwierigkeiten, mit sich führt; dass ferner alle [Erkenntnis] die Stufe vollkommener, absoluter Wissenschaft (nämlich solcher, die mit keinen prinzipiellen Schwierigkeiten mehr behaftet ist) erst erreichen kann, wenn sie die notwendige Ergänzung durch Vernunftkritik erfahren hat, durch eine Disziplin, welche eben die prinzipiellen Schwierigkeiten des Skeptizismus zur Lösung gebracht hat; und wieder liegt darin, dass im Sinn der Vernunftkritik mit ihrer auf alle dogmatischen Wissenschaften bezüglichen, aber deren eigenen Arbeitsgebieten fremden Problematik liegt, dass sie nur in der Einstellung der phänomenologischen Reduktion, also auf dem Arbeitsboden der Phänomenologie zu vollziehen ist.
So sind also die Zusammenhänge: Die Phänomenologie, auf die wir lossteuern, erweist sich als die im echten Sinn erste Philosophie, wenn eben Philosophie der Titel ist für die Idee absoluter Erkenntnis. All das im Einzelnen auszuführen, wäre an sich von größter Wichtigkeit, aber hier ist es nicht unsere Aufgabe. Unsere Auseinandersetzungen mit der cartesianischen Reduktion waren zwar auch in den angedeuteten Richtungen notwendig und lehrreich, aber wir nahmen sie hier nur zum Anlass, um auf wichtige Eigentümlichkeiten unserer Reduktion kontrastierend hinzuweisen und ihr rechtes Verständnis zu befördern. Das ist notwendig für das Verständnis der Phänomenologie selbst. [1]
In diesem Sinn betonten wir, dass Descartes mit dem Rückgang auf das cogito zwar zum Boden der Phänomenologie hinführt, dass er ihn aber nicht wirklich erreicht. [2] Er durfte nicht die substantia cogitans behalten, er durfte über die
[1] Randbemerkung: b[is] h[ier] Erk[enntnistheorie].
[2] Randbemerkung: Noch immer Erkenntnistheorie.
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cogitationes nicht hinausgehen, und unter dem Titel cogito [durfte er] nur das zulassen, was nach Ausschluss aller transzendierenden Realitätsapperzeption immanent zu konstatieren ist: was das ist, das ist aber erst zu untersuchen. [1] Andererseits verdanken wir ihm ein Wichtiges, nämlich die Einsicht, dass nach Vollzug der richtig begrenzten Reduktion uns wirklich ein Feld von Gegebenheiten vor Augen steht, und mit Evidenz vor Augen steht. Dass dieses Feld absolut Zweifelloses enthält, dass der reine Blick des Schauens, nach der Reduktion, die jeweilige Wahrnehmung, das jeweilige Phantasieerlebnis, das jeweilige Urteils-, Gefühls-, Willenserlebnis als absolut Gegebenes selbst erfasst, das ist ein wichtiger Ausgangspunkt. Was damit weiter zu machen ist, wie das Feld zu erweitern, wie dann die Evidenzen zu begrenzen sind, das ist ein Weiteres, das erst der fortführenden Überlegung bedarf.
Ehe wir das in Angriff nehmen, knüpfen wir an einen neuen Mangel des cartesianischen Verfahrens an. Nicht nur weil er die Seelensubstanz festhielt, unterliegt er, und zwar in Ansehung der ihn selbst leitenden Intentionen, dem Tadel und verfehlt er den Boden der Phänomenologie. Vielmehr auch dadurch, dass er mit dem, was er wirklich schon hat, nichts anzufangen weiß. Eben darum verfällt er mit dem Überspringen zu den Gottesbeweisen und den darin gegründeten Beweisen für eine reale Außenwelt in einen widersinnigen Dogmatismus: widersinnig, weil er eben die Linien der Epoché überschreitet, ehe diese ihren Zweck erfüllt, d.i. zu einer vollkommenen Vernunftkritik geführt hat. Stellen wir uns einmal auf den Boden der cartesianischen ersten Meditation, [2]
[1] Randbemerkung: Erk[enntnistheorie].
[2] Gestrichen: und tun wir so, als wären wir skeptisch so verwirrt, dass uns alle Realitätserkenntnis, alle transzendente Erkenntnis überhaupt ein Rätsel wird, wo nicht gar ernstlich zweifelhaft. Wir können uns auf Realitätserkenntnis beschränken, [Fortsetzung der Streichung auf der Rückseite des Blattes (B II 19/33b)]
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Gestrichen: da genau besehen doch bei Descartes alles, aller Erkenntniszweifel auf sie bezogen erscheint, auch wo Erkenntnis ganz universell verstanden ist. Wenn die zweite Meditation uns auf die absolute Gegebenheit der cog[itatio] verweist, sei es auch in der Form des cogito und sum, so scheidet sich damit das auch im Sinn des Skeptizismus nicht Zweifelhafte gegenüber dem Zweifelhaften. Und zweifelhaft bleibt nun auch weiter die Möglichkeit der Erkenntnis der Realität (und genau besehen, wie wir meinen, auch der Seelenrealität). Also nun ist erst recht das Problem: Wie ist in der Immanenz Transzendentes zu erkennen möglich? Nicht das bloße Faktum ist zweifelhaft, sondern die Möglichkeit. Hat nun die Reduktion ihr Werk getan damit, dass sie nach Herausstellung der rein reduzierten Phänomene uns eben die Schwierigkeit prägnanter begrenzt, also dahin, [wie] etwas, was Realität an sich, Transzendentes ist, im Phänomen, im Bewusstsein soll zur Erkenntnis kommen können? Ende der gestrichenen Stelle
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so dass uns alle Erkenntnis zum Rätsel wird, und lassen wir uns durch die zweite Meditation belehren, dass das cogito oder, wie wir es uns begrenzen, das reine Bewusstsein ein absolut Unzweifelhaftes ist. [1]
Konsequenterweise ist nun alle Realitätserkenntnis ausgeschaltet. Aber wie steht es nun mit dem Rätsel solcher Erkenntnis? Das Rätsel ist nicht gelöst damit, dass ich in der Reduktion das bloße Bewusstsein übrig behalte. Vielmehr ist es jetzt erst recht empfindlich und hat es jetzt erst seine rechte Begrenzung erfahren. Wie kann Bewusstsein von sich aus etwas erkennen und in triftiger Weise erkennen, was eben nicht selbst Bewusstsein, sondern dem Bewusstsein gegenüber ein An-sich ist, eine Realität, die in sich ist, was sie ist, ob das jeweilige Bewusstsein selbst ist oder nicht ist? Diese Frage muss offenbar in prinzipieller Allgemeinheit und Reinheit gestellt werden. Denn ist es nicht evident, dass diese Frage nicht dieses oder jenes zufällige An-sich-Sein und nicht diese oder jene zufällige cogitatio betrifft, wie ich sie gerade im cogito vorfinde, sondern allgemein betrifft Bewusstsein überhaupt im Verhältnis zu An-sich-Sein überhaupt, oder Erkenntnis überhaupt und erkanntes Reales, erkanntes An-sich-Seiendes überhaupt? Erkenntnis ist ein Bewusstsein; Erkenntnis soll etwas gültig als seiend setzen, was sie selbst nicht ist, was Bewusstsein nicht als reelles Stück in ihr und als reelles Moment an ihr finden [kann] , was also das Bewusstsein transzendiert. Wie ist das möglich? Offenbar wäre es ein Zirkel, mit supponierten Realitäten zu operieren und mit irgendwelchen dogmatischen Realitätsüberlegungen das Problem zu lösen. Der Sinn des Problems erfordert offenbar absolut strenge phänomenologische Reduktion, denn jede transzendierende Erkenntnis ist mit dem Problem behaftet. Also entweder ist das Problem unlösbar, und dann müsste es selbst widersinnig sein, oder es ist lösbar auf dem Boden der phänomenologischen Reduktion.
[1] Randbemerkung: Erk[enntnistheorie].
B II 19/34b "58" "34"
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All das hat sich Descartes nicht klargemacht, da er den guten Anfang sofort damit verdarb, dass er in Gottesbeweise und in real-wissenschaftliche Überlegungen überhaupt dogmatistisch eintrat. [1] Nun werden Sie aber sagen: Ist denn die Situation nicht wirklich hoffnungslos? Da wir die Realität ausgeschaltet haben, also übrig haben, was nicht Realität ist, wie können wir noch an die Realität herankommen? Wie können wir die Frage, wie Erkenntnis von Realität möglich ist, überhaupt noch angreifen? Und gibt es außer dem Realen noch anderes Transzendentes, so müssten wir auch das für erkenntnistheoretische Zwecke ausschalten, und das Ende wäre, dass auch das darauf bezügliche Problem unangreifbar würde.
Diese Überlegung soll uns aber gerade dazu dienen, die fundamentale Feststellung zu machen, dass die Realitätsausschaltung der phänomenologischen Reduktion (und eventuell jede ähnlich zu vollziehende Ausschaltung erweiterter Seinssphären) in gewissem Sinn nichts von dem einbüßt, was da ausgeschaltet heißt, und dass die erkenntnistheoretische Leistung der Reduktion darin besteht, nur das auszuschalten, was eben das Problem der Möglichkeit der Erkenntnis seinem Sinn nach auszuschalten fordert, und andererseits das zurückzubehalten, was es, wiederum sinngemäß und somit auch für Zwecke der Lösung, zurückzubehalten fordert. Aber das hat sich Descartes und hat sich die Vernunftkritik nach Descartes niemals klargemacht. Überlegen wir die Sache näher.
Die phänomenologische Reduktion sagt doch bloß: Wir machen von der Setzung von Realem keinen Gebrauch, wir urteilen nicht in der Einstellung der Realitätswissenschaften, wir nehmen aus ihnen keine einzige Prämisse in unseren Forschungsrahmen auf; wir urteilen, wie wir es auch nennen können, nicht ontol[ogisch], sondern eben phänomenologisch: Wir machen das „reine Bewusstsein“ (rein natürlich auch von allem Psychologischen) zum Forschungsgebiet. Alle Realität bekommt die „Klammer“, die da sagt, kein Seinsurteil darüber sei hier als geltend bzw. als gültig hingenommenes, keines sei als Prämisse zulässig.
[1] Randbemerkung: Erk[enntnistheorie].
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Es ist nun aber klar, dass dieses Einklammern der Realität, ähnlich wie das Einklammern auf der Schreibtafel, das Eingeklammerte nicht einfach beseitigt, eben nicht fortwischt. Alle Beziehungen, die das jeweilige Bewusstsein auf Realität hat und in sich hat, sofern es eben Bewusstsein von Realität ist, verbleiben diesem Bewusstsein eo ipso, sie sind ja auch gar nicht von ihm abtrennbar. Dass Bewusstsein in sich selbst, dass cogit[atio] in sich selbst Bewusstsein von etwas ist, das gilt es in den Brennpunkt der Betrachtung zu rücken, und somit für das Bewusstsein von Realem, Bewusstsein von Transzendentem, dass es in sich Bewusstsein davon ist, etwa wahrnehmendes Bewusstsein von ihm, erinnerndes, urteilendes etc. Nur was an Realitätssetzung dabei vollzogen ist, wird sozusagen außer Aktion gesetzt, es bekommt den Index. In der ontol[ogischen] Einstellung des Alltags und der Wissenschaft „vollziehen“ wir äußere Wahrnehmungen und sonstige Erfahrungen und vollziehen wir auf sie gegründete Erfahrungsurteile. Ebenso vollziehen wir mancherlei nicht auf wirklicher Erfahrung gebaute, sondern der Tradition, der Superstition entnommene Realitätsurteile usw.; [sie] vollziehend stehen wir auf dem Boden dieser Stellungnahmen, dieser Seinsmeinungen, Seinssetzungen. Also wir nehmen Dinge wahr und nehmen sie als daseiende hin, prädizieren von ihnen reale Eigenschaften; und in der ont[ologischen] Einstellung fixieren wir unsere Erkenntnisergebnisse, die durchaus Seinsfeststellungen sind, in Form von Sätzen, Theorien, Wissenschaften. In der phänomenologischen Einstellung üben wir Epoché hinsichtlich aller Dingsetzung, aller Realitätsurteile als Stellungnahmen zur Realität; aber all die Erkenntnis, die wir in Beziehung auf Dinge vollziehen, all die guten und schlechten Meinungen, die wir über sie haben, all die berechtigten oder unberechtigten Theorien und Disziplinen, die wir über sie gebildet haben, werfen wir nicht weg, sondern sie, wie alles reine Bewusstsein, sind nun gerade unsere Domäne. Statt in natürlicher Weise wahrzunehmen und in natürlicher Weise das Wahrgenommene zu beurteilen, wenden wir reflektierend unseren Blick auf das Wahrnehmen und auf all das, was darin liegt. Wir nehmen es rein in sich. Wir unterbinden einklammernd die Setzung des eigenen Ich. Wir setzen das Wahrnehmen rein als dieses Wahrnehmen. Und dieses Wahrnehmen ist Wahrnehmen da des blühenden Jasmin;
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das gehört zu ihm selbst, unabtrennbar. Also gehört es auch uns in der phänomenologischen Reduktion. Das Wahrnehmen ist ein dieses reale Ding setzendes Bewusstsein, das können wir nicht ausschalten, das müssen wir nehmen, es gehört zum Wahrnehmen. Aber das heißt nicht, dass wir in der phänomenologischen Einstellung uns auf den Boden dieser Setzung stellen und nun innerhalb der phänomenologischen Sphäre urteilen, es sei in Wirklichkeit ein Jasmin und dieser Jasmin da und er habe wirklich diese realen Eigenschaften usw. Ebenso für alle cogitationes.
Als Phänomenologen blicken wir, um ein anderes Beispiel zu nehmen, auf ein Urteil hin. Es mag ein soeben von uns vollzogenes sein. Also wir haben es wirklich vollzogen. Zum Beispiel in Anlehnung an unsere Wahrnehmung das Urteil „Hier blüht der Jasmin“. Das haben wir als natürliche Menschen getan. Als Phänomenologen vollziehen wir Reduktion, das sagt, wir sehen uns das Urteilsbewusstsein, die cogitatio an, und für unsere phänomenologischen Zwecke machen wir nunmehr keinen Gebrauch von dem, was das Urteil da urteilt. Wir sind ja dessen ganz gewiss, dass hier der Jasmin blüht. Aber wir klammern diese Überzeugung ein. Das sei keine Prämisse für uns. Aber was uns interessiert, ist eben dieses Urteilsbewusstsein selbst, wie es aussieht, was zu seinem Wesen gehört, was das für ein Moment ist, das an diesem Urteil Überzeugungsmoment heißt usw. Die Beziehung auf die Jasmin-Realität und all das, was zu ihr gehört, Substanzialität, Kausalität, Räumlichkeit, Zeitlichkeit usw., ist nicht weggefallen, sondern zurückbehalten und gerade das uns Wichtige. Nur dass wir unseren Blick rein darauf richten, dass solches Bewusstsein in sich selbst auf solches Reales, mit solchem Bestand an realen Konstituentien sich richtet: während wir die urteilende Stellungnahme zu dieser Realität jetzt nicht „mittun“, jetzt nicht in unsere Feststellungen aufnehmen.
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Wir scheiden so überall aufs Sorgfältigste und ganz prinzipiell die natürliche (ontol[ogische] , dogmatische) Einstellung und natürliche Urteilsweise gegenüber der phänomenologischen. Wir legen uns ein neues Grundbuch der Forschung an und beschließen, in dasselbe kein natürliches Realitätsurteil einzutragen und ausschließlich einzutragen Urteile über reine Bewusstseinsgegebenheiten. Persönlich und privatim sind wir natürlich überzeugt, dass eine Welt ist, dass unsere Bewusstseinserlebnisse unsere, dieser realen Persönlichkeiten Erlebnisse sind, unter den und den psychologischen Gesetzen stehen usw. All solche Realitätsurteile mögen ihren guten Platz haben in anderen Wissenschaften und ihren Grundbüchern. Jetzt seien sie prinzipiell ausgeschaltet.
Andererseits, wenn auch die Urteile als prätendierte Wahrheiten über Realität ausgeschaltet sind: Die Urteilserlebnisse als solche und deren Eigenheit, Erlebnisse zu sein, die das und das für wahr halten, die und die Wirklichkeiten als real seiende ansetzen, gehören in den Rahmen der Bewusstseinsforschung, und Urteile über diese Erlebnisse in diesen Hinsichten wie über alle Erlebniseigentümlichkeiten sind das, was wir jetzt fixieren.
Eben damit eröffnet sich sogleich die Ahnung des Weges, wie die erkenntnistheoretischen Probleme auf phänomenologischem Boden in Angriff zu nehmen sind. [1] Gehört zum Bewusstsein selbst dies, dass es Bewusstsein von etwas ist, also eventuell, dass es Bewusstsein von einem Realen ist, gehört es speziell zur Realitätserkenntnis, dass sie in sich das Sich-Beziehen auf Realität als Moment enthält, dann wird sich doch wohl in der auf das reine Bewusstsein gerichteten Einstellung diese Beziehung studieren lassen. Von vornherein wird man sich ja hier sagen können (und man müsste es sich eigentlich sagen): Das Problematische ist, das Ungeklärte und zunächst Unverständliche, wie Bewusstsein sich gültig auf die Gegenständlichkeit beziehen kann.
[1] Randbemerkung: Erk[enntnistheorie].
B II 19/36b "60" "36"
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Das Bewusstsein in sich selbst vollzieht aber diese Beziehung in Form der Meinung, in Form des Dafürhaltens, des als dies oder jenes Setzens; und welchen Sinn diese Beziehung hat, das kann nur aus ihr selbst, d.i. aus der Vertiefung in den Inhalt der bewusstseinsmäßigen Meinung selbst entnommen werden. [1] Ich muss mir also das Bewusstsein selbst ansehen und mir deutlich machen, dass es in sich selbst Meinen von etwas ist, wahrnehmendes Meinen, erinnerndes Meinen, prädizierendes Meinen usw. Und ich muss mir das, was in diesem Meinen selbst sinngemäß liegt und was ich nicht wegtun kann, ohne es als dieses Meinen aufzugeben, klarlegen. Insbesondere wenn man da von Meinen spricht, [von] gültigem und ungültigem Meinen spricht und in Bezug darauf von sich in der „Begründung“ ausweisendem Meinen spricht oder in der Entgründung sich abweisendem und „aufhebendem“ Meinen, so muss man doch im eigenen Wesen des Bewusstseins selbst die Eigentümlichkeiten und Unterschiede nachweisen, die solchen Reden ihren Sinn geben. Alle Sinngebung vollzieht sich doch im Bewusstsein selbst; und wenn Realität gesetzt und über Realität das oder jenes ausgemacht ist, so ist [es] doch das Bewusstsein mit seinem Wahrnehmen und Erfahren, mit seinem Urteilen, Schließen, Theoretisieren, das in sich selbst der Rede von Realität Sinn und der Setzung von Realität Wert verleiht. Verstehe ich also nicht, was mein Bewusstsein in seinem naiv-natürlichen Verfahren da eigentlich an Sinngebung und Erkenntniswertungen leistet, ist mir der Sinn meines Bewusstseinstuns nicht klar, worauf sonst kann es da ankommen, als aus der naiven Haltung, aus der des naiven Tuns, überzugehen in die Haltung der phänomenologischen Reflexion, in der ich eben auf das Bewusstsein selbst und seinen Sinn und Geltung verleihenden Zusammenhang hinsehe und sie zu Forschungsobjekten mache? Und natürlich urteile ich jetzt rein über das Bewusstsein in sich selbst und seinen eigenen Sinn, ich urteile jetzt nicht naiv über Realität, sondern ich urteile über die Bewusstseinsarten, deren Sinn es ist, Realität zu meinen und eventuell Realität in „richtiger und begründeter Weise“ zu meinen. Die phänomenologische Reduktion ist aber gar nichts weiter als die Fürsorge, die es hindert, dass ich die beiden Einstellungen miteinander vermenge,
[1] Randbemerkung: Erk[enntnistheorie].
B II 19/37a "61" "37"
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dass ich nicht das, was mir erkenntnistheoretisch fraglich ist, nicht plötzlich als unfraglich behandele. Durch ontologische Urteile erkenntnistheoretische Probleme lösen zu wollen, ist widersinnig. Das ist völlig klar, wenn man sich eben die Natur solcher Probleme, ihren eigenen Sinn klargemacht, wenn man also gesehen hat, dass sie nicht Seinsprobleme sind, sondern Probleme der „Möglichkeit“ der Erkenntnis von Sein, der gültigen Beziehung von Bewusstsein auf Sein sind. Und weiter, dass diese Möglichkeit nicht reale Möglichkeit besagt – nicht fragt, wie im Bewusstsein des realen Menschen es psychologisch dazu komme, dass er ein Urteil fälle, das auf ein anderes Reales, etwa Außenwelt, die und die Beziehung habe –, sondern den möglichen gültigen Sinn der Bewusstseinsbeziehung auf Reales angeht. Völlig klar wird es auch durch solche Betrachtungen, dass die Gesamtheit der in der phänomenologischen Reduktion gewonnenen Erkenntnisse, da sie eben prinzipiell jede Behauptung über das Sein von Realem unterlassen, die echte Voraussetzungslosigkeit hat, die von erkenntnistheoretischen Urteilen gefordert ist. Sie prädizieren nicht ontologisch, eben dadurch, dass sie zwar über Reales urteilen, aber nur als Gemeintes, nur als Korrelatum des Meinens, des Wahrnehmens, des Urteilens, des Erkennens.
Was aber abgesehen von allen erkenntnistheoretischen Abzweckungen übrig bleibt, ist die Erkenntnis, dass es eben eine geänderte Einstellung gibt, innerhalb deren ein weites Feld möglicher Erkenntnisse sich eröffnet, die radikal und völlig prinzipiell unterschieden sind von den ont[ologischen] Urteilen und dem Feld ont[ologischer] Erkenntnis, d.i. vom Feld aller Natur- und Geisteswissenschaften, der empirischen und eidetischen, aber auch vom Feld der Mathesis.
B II 19/37b "61" "37"
Transcription
Das ist eben der Grundfehler der sensualistischen Assoziationspsychologie seit dem 18. Jahrhundert gewesen, dass man diese primitivste aller Erkenntnistatsachen übersah, sie, die schon Descartes gesehen, aber auch nicht nutzbar gemacht hat: eben diese Tatsache, dass Bewusstsein eben Bewusstsein ist. Es ist nahezu unglaublich, dass dies erst gesagt werden muss. Menschliches Bewusstsein und Bewusstsein überhaupt ist nicht ein Schauplatz für das Kommen und Gehen von sogenannten „Inhalten“, die eine Art von Realitätspünktchen sind: Farbinhalte, Toninhalte usw. Bewusstsein ist nicht eine Tafel, auf der nach dunklen Naturgesetzen sinnlose Zeichen auftauchen. Vielmehr ist das, was wir Einheit des Bewusstseins nennen, nichts anderes als ein Zusammenhang, in dem alles sich auflöst in Bewusstsein, und Bewusstsein ist Bewusstsein von etwas.
B II 19/38a "62" "38"
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Die [1] Auseinandersetzung mit Descartes galt uns als ein Leitfaden, um wichtige Charakterzüge der phänomenologischen Einstellung und ihrer Gegebenheiten zu erläutern.
Gestrichen: Stellen wir uns auf den Boden der cartesianischen Intention auf absolute Erkenntnis, so sehen wir uns dann folgerichtig zur phänomenologischen Reduktion genötigt. Dann erhebt sich die Frage: Wird die Situation dadurch nicht hoffnungslos? Ist die Möglichkeit der Erkenntnis von Realität, die als solche Bewusstsein transzendiert, [nicht] rätselhaft und fordert die Lösung des Rätsels [nicht] , Realität überhaupt in Frage zu stellen, also sich auf die Immanenz des reinen Bewusstseins zurückzuziehen? Ist dann nicht jedes Überschreiten des Bewusstseins verwehrt, also die Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis unmöglich? Ende der gestrichenen Stelle
Im Zusammenhang solcher Auseinandersetzung machten wir uns klar, dass Reduktion auf das reine Bewusstsein nicht Ausschluss von Realität überhaupt und in jedem Sinn besagt, sofern es eben zum eigenen Wesen des Bewusstseins gehört und darunter auch des erkennenden Bewusstseins, Bewusstsein von etwas zu sein, also des Realitätsbewusstseins, Bewusstsein von Realem [zu sein] . Damit eröffnet sich die Möglichkeit, das Wesen der Beziehung, die Bewusstsein auf Bewusstes und speziell auf Reales hat, zu studieren und in einer Weise zu studieren, die nicht im Voraus irgendwelche Kenntnis von Realem, nicht einmal das Sein von Realem benützt. Realwissenschaft vollzieht Realitätssetzung im ersten Schritt und so in jedem Schritt. Ihr ist Realität als daseiende durch Erfahrung gegeben, und auf die so gegebene Realität beziehen sich all die bestimmenden Urteile. Andererseits, phänomenologische Wissenschaft vollzieht keine Realitätssetzung, und wo Bewusstsein von Realität und direkter Realitätssetzung von ihr studiert wird, stellt sie sich nicht auf deren Boden, sie macht die Setzung nicht mit, sondern sieht sie sich an und fragt, was in ihrem Sinn liegt und was im Sinn des Realen liegt, so wie es in dieser Setzung Gesetztes, so wie es in der Wahrnehmung Wahrgenommenes, im Anschauen Angeschautes, im denkenden Erkennen Erkanntes ist. Das Reale ist hier nicht
[1] Wohl Beginn einer neuen Vorlesungsstunde (Mittwoch, 3. Juli 1912).
B II 19/38b "62" "38"
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das natürlich gesetzte Reale, das für mich einfach da ist und nach dessen ihm gültig zukommenden Bestimmungen ich frage. Und es ist aber auch nicht hypothetisch gesetzt, es ist nicht die Frage: Was muss weiter sein, vorausgesetzt dass dies Reale da ist, was hat das für reale Folgen, welche Eigenschaften muss es haben, welche kommen ihm als Konsequenz der schon vorausgesetzten zu usw.? Es ist auch nicht die Frage: Existiert das wirklich oder nicht? Und wie entscheide ich aufgrund anderer Gegebenheiten, ob das Reale wirklich existiert oder nicht?
Die hypothetische Setzung ist keine phänomenologische Setzung und ebenso die Seinsfrage keine phänomenologische Frage. Wer bloß hypothetisch ansetzt, vollzieht freilich keine Thesis der Realität (oder braucht nichts dergleichen tun), ebenso wie derjenige, der eine Seinsfrage über Reales ausspricht, keine Setzung hinsichtlich der Realität als Unterlage braucht. So nicht, wenn er die allgemeinste Seinsfrage stellt. Aber das Negativum, das Nichtvollziehen irgendwelcher Seinssetzung in Ansehung von Realem, charakterisiert auch nicht vollständig die phänomenologische Einstellung. Die Epoché hinsichtlich aller Setzung von Realität, das war für uns, genau besehen, nur ein Mittel, um den Übergang in die rein phänomenologische Einstellung, die auf die Thesis des reinen Bewusstseins gerichtete, zu ermöglichen. Diese Thesis ist das Positive. Auf ihrem Grund soll phänomenologisch Erkenntnis und Wissenschaft begründet werden. Jede Erkenntnis vollzieht Thesen, jede Wissenschaft will Seiendes erfassen, es begreifend erkennen, erkennend bestimmen. Das gilt also auch von der phänomenologischen Erkenntnis. Aber ihre Thesis liegt in einer völlig neuen Dimension gegenüber jeder natürlichen Thesis. Sie ist auch nicht ohne weiteres zu vollziehen wie die natürliche Thesis. Es bedarf einer Umstellung gegenüber einer schon vollzogenen natürlichen Einstellung und einer eigenen Reduktion. Wir sind etwa zuerst auf Natur eingestellt und treiben Naturerkenntnis; da gibt die Thesis unter dem Titel „Erfahrung“ den Boden: Dinge stehen da im Zusammenhang der räumlich-zeitlichen Natur. (Daseiend sehen wir sie und im Sehen lebend nehmen wir sie eben als diese, die da sind. Und diese Daseienden haben ihre mehr oder minder unbestimmt gesetzte Umgebung, sie sind in der unbestimmt gesetzten Welt-Natur.) Und unser ganzes Denken ist nun in der Naturwissenschaft auf dem Boden dieser Thesis vollzogen: In welcher logischen Form wir urteilen, immer beziehen sich unsere Urteile auf die
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gesetzte, auf diese daseiende Natur, die eben daseiende ist vermöge der fortlaufenden Setzung des Erkennenden.
Die phänomenologische Einstellung ist eine ganz anders gerichtete, und ihre Thesis ist [eine] total andere. Wir können von jeder naturwissenschaftlichen Thesis aus die Umstellung in die phänomenologische vornehmen. Statt die Thesis der Natur zu vollziehen, anstatt also von der Natur zu sprechen, der einfach und selbstverständlich daseienden, sprechen wir nun von dem Bewusstsein von der Natur, von all den möglichen und jeweils zu erfassenden Weisen des Natur-Meinens, des Natur-Setzens als Wahrnehmen, als denkenden Setzens usw., aber auch des Natur-Phantasierens, des Natur-nicht-Setzens, sondern spielerisch Fingierens, sich darüber willkürlich Gedankenmachens usw. Denn jedes Bewusstsein hat hier zunächst sein gleiches Recht. Und wenn wir jetzt das Setzen von Natur zum Thema machen, z.B. das Setzen in Form der Wahrnehmung, so besteht nicht nur der Unterschied darin, dass wir einmal wahrnehmend auf den Gegenstand gerichtet sind, phänomenologisch aber auf die Wahrnehmung gerichtet sind; denn auch der Naturforscher reflektiert gelegentlich auf die Wahrnehmung, wie wenn er sagt: Eben beobachte ich das und das. Aber wenn er reflektiert, so bleibt er auf dem Setzungsboden der Wahrnehmung stehen. Auch reflektierend hält er die Setzung aufrecht. Der Phänomenologe aber, ohne die Setzung zu verwerfen, „macht sie nicht mit“, klammert sie ein; für ihn ist die Setzung nicht eine von ihm als Phänomenologen vollzogene, mitgemachte, ihm Erkenntnisboden gebende Setzung, sondern für ihn wird sie zum „Phänomen“; die Wahrnehmung ist nun Wahrnehmung in Klammern. Sie wird zum Objekt eines eigenen Interesses, das die Wahrnehmung sich bloß ansieht nach dem, was sie ihrem Wesen nach ist; sich also ansieht als Setzung von etwas und, damit verflochten, als eine gewisse Erscheinung von etwas, von diesem Tisch, von diesem oder jenem realen Sein.
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Das reale Sein ist nun nicht vom Phänomenologen gesetztes, für ihn als Phänomenologen daseiendes Reales, sondern für ihn ist es das von dieser Wahrnehmung als daseiend Gesetzte und in ihr Erscheinende, in ihr mit den und jenen Bestimmtheiten erscheinend usw. Jede darin beschlossene Setzung wird zur Setzung in Klammern, und das Reale selbst ist nicht Natur schlechthin, sondern Natur in Klammern, Natur als Korrelat der Wahrnehmung und ein anderes Mal Natur als Korrelat der Erinnerung und ein drittes Mal Natur als Korrelat einer Fiktion, eines vagen Gedankens, einer Realitätsaussage usw. So hat also in bestimmter und eigentümlicher Weise alle Realität, alle wirkliche und mögliche, wahrhaft seiende oder nichtseiende, einsichtig beurteilte und töricht beredete Realität im Rahmen der phänomenologischen Forschung ihre Stelle: Wir haben nämlich in diesem Rahmen alles und jedes Realitätsbewusstsein und Realität als Bewusstseinskorrelat, genau wie es da eben vermeintes, intentionales Reales ist.
Inwiefern diese beschriebene Änderung der Einstellung bzw. diese Einklammerung der reine und einzig berechtigte Sinn der vielberedeten Voraussetzungslosigkeit der Vernunftkritik ist, kann ich, da wir hier keine Erkenntnistheorie geben wollen, nicht ausführlicher erörtern. Uns kommt es nur auf die Beschreibung der Methode und die Aufweisung des Bodens an, der durch sie gewonnen wird, auf die Einsicht, dass hiermit wirklich ein neuer Forschungsboden sich eröffnet, der Boden des reinen Bewusstseins, der in der Weise eingeklammerter Korrelate alles und jedes in sich schließt, was sonst andere Thesen setzen, was aber hier modifiziert zum bloßen Korrelat auftritt. Auf diesen Boden und alles, was auf ihm zu erkennen ist, kommt es uns an, er bleibt unser Gewinn, welche Wege wir auch einschlagen mögen, um an ihn heranzukommen, ob wir durch die erkenntnistheoretische Problematik, durch die Schwierigkeiten der Skepsis hindurchgehen oder nicht.
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Übrigens: Lassen wir uns von erkenntnistheoretischen Bedürfnissen zur Einsicht in die Notwendigkeit einer Phänomenologie hinleiten, so werden die Probleme der Möglichkeit einer Realitätserkenntnis zwar die nächstliegenden sein; aber man sieht bald, dass sie nicht die einzigen sind und nicht die einzigen, die eine Phänomenologie fordern. In der Tat ist die Transzendenz der Realität nicht die einzige Transzendenz gegenüber dem Bewusstsein. Und sollten nicht auch andere Gegenständlichkeiten, auch nicht-reale, hinsichtlich der Möglichkeit ihrer Erkenntnis Schwierigkeiten mit sich führen? Nämlich Schwierigkeiten analoger Art, wie sie Realitätserkenntnisse mit sich führen? Wenn das der Fall ist, muss auch in Bezug auf diese Gegenständlichkeiten und ihre Setzung Reduktion geübt und das Bewusstsein, das sie setzt und erkennt, in phänomenologischer Art zum Thema gemacht werden.
In der Tat ist es klar, nun nachdem wir den Boden der Phänomenologie schon gewonnen haben, dass jedes Bewusstsein, in phänomenologischer Reinheit gefasst, zu ihm gehört und dass ebenso in Hinsicht auf jedwede mögliche Gegenständlichkeit die phänomenologische Einklammerung vollzogen werden kann. Was irgend von einer Gegenständlichkeit aussagbar ist, bloß sofern sie als Korrelat des Bewusstseins von ihr betrachtet wird, also nicht thetisch und naiv gesetzt wird, und was vom Bewusstsein andererseits, sofern es Bewusstsein von ihr ist, ausgesagt werden kann, das gehört zur Phänomenologie. Das gilt allgemein, und nur wo die Thesis des Bewusstseins die Thesis des in ihr Bewussten mitumschließt, sofern die Gegenständlichkeit im Bewusstsein „reell enthalten“, sofern die Bewusstseinssetzung ohne Mitsetzung der Gegenständlichkeit unmöglich ist, werden wir in der Phänomenologie Gegenstandssetzung nicht los. Das Infragestellen macht zwar den Anfang, aber bei Rückgang auf das Bewusstsein und seine reine Setzung ist alles reell Enthaltene wieder mitgesetzt. Die Gegenständlichkeiten sind dann eben immanente, selbst zum Boden der Phänomenologie gehörige. Wo sie es aber nicht sind, wie z.B. wenn wir von der Anzahlenreihe als einer unendlichen Reihe idealer Gegenständlichkeiten sprechen, da haben wir natürlich genau wie im Fall realer Gegenständlichkeiten
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auf das reine Bewusstsein zurückzugehen, also zu fragen: Wie sehen die Bewusstseinsweisen aus, in denen die Zahlenreihe bewusst, in denen sie vermeint und eventuell gegeben ist? So wie wir erkenntnistheoretisch die Möglichkeit der Naturerkenntnis und den berechtigten Sinn von Natur als Objekt möglicher Naturerkenntnis nach phänomenologischer Methode durch Rückgang auf das Natur erkennende Bewusstsein in seinen wesentlichen Gestaltungen erforschen, also derart, dass wir dabei phänomenologische Reduktion in Ansehung der Natur üben, genauso erforschen wir die Probleme der Möglichkeit der arithmetischen Erkenntnis und den berechtigten Sinn der Anzahlenreihe als Objektfeld möglicher arithmetischer Erkenntnis phänomenologisch: Wir treiben dann nicht Arithmetik, wir nehmen dann nicht die Anzahlenreihe hin, wir setzen sie nicht und machen nicht sie zum Erkenntnisboden, sondern wir studieren in phänomenologischer Einstellung das arithmetische Bewusstsein und seine arithmetischen Korrelate und erforschen in diesem Feld, was das sagt: gültiges Korrelat möglicher arithmetischer Erkenntnis, genannt unendliche Anzahlenreihe.
Da, wie man bald sieht, alle skeptischen Schwierigkeiten, oder, wie wir auch sagen können, alle Schwierigkeiten, welche der Erkenntnis und Wissenschaft in natürlicher Einstellung anhaften, daraus erwachsen, dass die natürliche Erkenntnis naiv den Sachen zugewendet ist, und die nachkommende Reflexion Anstoß daran nimmt, dass die erkannten Sachen dem Bewusstsein gegenüber an sich und doch im Bewusstsein erkannt sein sollen und erkannt als ihm gegenüber an sich, so wird in Bezug auf alle Wissenschaften und alle Gegenständlichkeiten systematische phänomenologische Forschung die Funktion übernehmen müssen, es wesensmäßig klarzumachen, was Bewusstsein in sich selbst ist und was die in ihm selbst vollzogene Beziehung auf Bewusstes, auf Gegenständlichkeit eigentlich für einen Sinn hat. Kurzum, eine allumfassende Bewusstseinsforschung und Erforschung der im Wesen des Bewusstseins liegenden Beziehung auf gegenständliche Korrelate wird zum universellen Erfordernis einer Kritik der Vernunft.
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Wir schließen daran eine abschließende Bestimmung der Gegenübersetzung von natürlicher und phänomenologischer (und in weiterer Folge vernunftkritischer und philosophischer) Einstellung.
Die phänomenologische Einstellung und die sie leistende phänomenologische Epoché charakterisierten wir zunächst negativ als Ausschaltung aller Realitätssetzung (auch der von Realitätsideen), aber nicht bloß [als] das, sondern auch positiv: als Setzung des Bewusstseins im Rahmen dieser Ausschaltung. Die Ausschaltung von Realität hat eine ausgezeichnete Funktion darum, weil Bewusstsein uns nicht von vornherein gegeben sein kann als reines Bewusstsein. Wir kennen, befangen in der natürlichen Einstellung, in der wir alle sind, Bewusstsein nur als psychischen Zustand von Personen. Wir setzen also Bewusstsein immer als psychisch Reales; dazu kommt, dass unzählige Bewusstseinssetzungen in sich Setzungen von Realem, z.B. von physischer Natur sind, die dann nicht minder ausgeschaltet werden muss. Also ohne an erster Stelle die Einklammerung von jedweder psychophysischen Realität, von Geist und Natur zu nennen, kommen wir gar nicht an das reine Bewusstsein heran. Wir gewinnen es, [wenn wir], ausgehend von psychischen Erlebnissen, diese Reduktion üben und fragen, was uns bei ihnen durch die Epoché übrig bleibt. Das war die Meinung unserer Überlegung. Andererseits aber wäre es eine unrichtige Bestimmung der phänomenologischen Einstellung gegenüber der natürlichen, wenn man bloß sagte: Natürliche Einstellung setzt Realität, sei es physisch oder psychisch; phänomenologische Einstellung setzt keine Realität. In der Tat: Reine Logik, reine mathesis universalis vollzieht gar keine Realitätssetzung, weder empirische Setzung noch eidetische, und doch ist mathesis universalis, ist reine Anzahlenlehre, reine Syllogistik u. dgl. nichts weniger als Phänomenologie. Sie gehört vielmehr durchaus in den Rahmen der „natürlichen“ Einstellung.
B II 19/42a "66" "42"
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Der Mathematiker vollzieht mathematisches Bewusstsein: Was er erkennt, sind die mathematischen Objekte. Andererseits, was die Phänomenologie erkennt, ist das mathematische Bewusstsein in Bezug auf das mathematische Objekt und das mathematische Objekt in Bezug auf das Bewusstsein. Das aber nicht empirisch und psychologisch, so wenig als biologisch. Der Mathematiker gehört in die Zoologie, das mathematische Bewusstsein als reales Faktum in die Psychologie. Das mathematische Bewusstsein in reiner Reduktion in die Phänomenologie. Ebenso für jede mögliche Wissenschaft, die nicht selbst Phänomenologie ist: die Naturwissenschaften, die soziologische Wissenschaft etc. Natürlich, auch das Phänomenologische ist bewusst, und es ist zwischen dem Phänomenologischen und dem Bewusstsein von ihm zu unterscheiden. Aber die Phänomenologie als Wissenschaft vom Bewusstsein überhaupt und seinen Korrelaten ist selbstverständlich auf sich selbst bezogen; auch die Bewusstseinsweisen, in denen phänomenologische Data gegeben sind, zu erforschen, ist ihre Aufgabe. Es ist das eine ähnliche Rückbeziehung auf sich selbst, die in anderer Weise die Logik hat: Die logischen Gesetze sind die formalen Prinzipien aller Wissenschaft, also auch die formalen Prinzipien der logischen Wissenschaft selbst. Jede universelle wissenschaftstheoretische Disziplin ist wie auf alle Wissenschaften so auf sich selbst (da sie eben selbst Wissenschaft sein soll) bezogen.
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[Das Forschungsfeld der Phänomenologie. Die für ihre Methode leitenden Unterscheidungen und die Hauptrichtungen phänomenologischer Arbeit]
Wir [1] gehen heute daran, das Feld der Phänomenologie näher ins Auge zu fassen, die sich zunächst darbietenden und für alle weitere Forschung leitenden Grundunterschiede zu erörtern und in Zusammenhang damit allgemeinste Eigentümlichkeiten der phänomenologischen Problematik und Methode kennenzulernen.
Unser Feld sind also die „Phänomene“ in einem bestimmten Sinn. (Es sind cogitationes im Sinn der modifizierten cartesianischen Reduktion, die wir die phänomenologische nannten.) Wir richten also unseren Blick auf das Wahrnehmungserlebnis, wie es in sich selbst ist und im schlicht fassenden Blick absolut gegeben ist, oder auf das Erinnerungserlebnis, das Urteilserlebnis, das Erlebnis eines Zweifels, das Gefühls- oder Willenserlebnis, in der ausführlich besprochenen Ausschaltung jeder Ichsetzung und Natursetzung.
Wir setzen, da unsere Forschung eine eidetische sein soll, auch nicht das reduzierte Phänomen als „dies da!“, als dieses jetzt erlebnismäßig dahinfließende Faktum. Andererseits gehört jedes wirkliche und mögliche Erlebnis, das im schauenden Blick fassbar ist, in der ganzen Fülle seiner Konkretion in den Rahmen der phänomenologisch-eidetischen Forschung. Diese bewegt sich keineswegs in der Höhe einer leeren, unbestimmten Allgemeinheit, sondern sie geht überall eidetisch in die Artungen der konkreten Besonderungen herein und bestimmt sie wissenschaftlich in reinen Begriffen, soweit sie in exakt unterschiedenen Begriffen fixierbar und fassbar sind. Dabei ist nicht nur das Individuelle, sondern auch das niederste Konkretum der Fixierung und Fassung unzugänglich. Dazu eine allgemeine Erörterung:
Jede eidetische Wissenschaft hat eine oberste Gattungsidee als Grundbegriff, als Feldbegriff könnten wir sagen, als den Begriff, der in allgemeinster Weise den Rahmen der eidetischen Forschung, das Feld der eidetisch in reinem Denken erforschten Gegenständlichkeiten ausmacht. Im echten Gattungsbegriff sind dann vorgezeichnet niedere Gattungen und Artungen bis herab zu den niedersten Differenzen. Die niedersten Differenzen sind das eigentliche Gebiet, auf das sich alle allgemeineren Ideen bzw. Begriffe beziehen.
[1] Beginn einer neuen Vorlesungsstunde (Mittwoch, 10. Juli 1912).
B II 19/43b "67" "43"
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So ist die Geometrie die eidetische Wissenschaft von den Raumgebilden. Jedes Raumgebilde als solches gehört also ins Gebiet. Die niedersten Differenzen sind die im geometrischen Sinn voll bestimmten Raumgebilde, jedes voll bestimmte Dreieck (natürlich geometrisch voll bestimmt), jedes voll bestimmte Hexaeder usw. Alle Gattungen und Arten, wie ebene Figur, Raumfigur oder Kegelschnitt, Kreis, Ellipse usw. beziehen sich in der eidetisch universellen Urteilsweise auf einen Umfang solcher niederster Differenzen. Das letzte Bestimmte in der Eidetik ist dabei selbst schon Idee, aber eine Idee, die in dieser Sphäre gleichsam als Individuum gilt. So würde ja niemand Anstoß nehmen, wenn wir von dem individuell bestimmten Dreieck sprechen würden, damit andeutend, wir meinten ein Dreieck als solches, das geometrisch voll bestimmt, d.i. weiterer Bestimmung nicht mehr fähig ist. In eben diesem Sinn sind in der Arithmetik die numerisch bestimmten Zahlen die niedersten Differenzen des eidetischen Gebietsbegriffs Zahl.
Wir sehen hier aber einen Unterschied. Die Anzahlenlehre kann die niedersten Differenzen exakt fixieren, in festen Begriffen wie 2, 3, 4 …, die voneinander scharf unterschieden sind. [1] Jede numerische Zahl ist entweder direkt in ihrer idealen Eigenheit und Bestimmtheit aufweisbar, identifizierbar, benennbar, oder auch indirekt durch exakte Relationsbegriffe bestimmbar. Ganz anders in der Geometrie. Die niedersten Differenzen von Dreieck erfahren in der Geometrie keine eigentliche Fixierung und unterscheidende Bestimmung. Wir sagen zwar bei Beweisen an der Figur: das Dreieck A B C. Aber das ist so wenig eine Bestimmung, wie wenn wir in der Arithmetik etwa in der Überlegung sagen, eine bestimmte Zahl, etwa die Zahl a. Wir sind also in der Geometrie in einer Situation, wie es etwa diejenige in der Arithmetik wäre, wenn wir für das Zahlengebiet eine bloße Algebra hätten, aber keine Gegebenheit der numerischen Zahlenreihe.
[1] Randbemerkung: Das charakterisiert offenbar die Sphäre der formalen Ontologie.
B II 19/44a "68" "44"
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In der Phänomenologie nun verhält es sich in dieser Hinsicht ähnlich wie in der Geometrie. Der oberste Begriff, der ihr Gebiet bestimmt und umgrenzt, ist die Kategorie cogitatio. Es ist evident, dass alles, was wir in der Reduktion zurückbehalten, seinem reinen Wesen nach zusammengehört und eine Gattungseinheit ausmacht. In den Umfang dieser Einheit fallen nun alle bestimmten cogit[ationes] , und zwar genommen in der ganzen Fülle des Inhalts. Bei allen Wesenseinsichten, mögen sie in größerer oder niederer Allgemeinheit sich halten, haben wir solche Konkreta vor Augen, und haben wir sie als Ideen vor Augen. Also z.B. das jeweilige Wahrnehmungsphänomen mit seinem ganzen Inhalt. Ist es ein aktuelles Wahrnehmen, so nehmen wir dabei nicht mit hinein sein hic et nunc, seine Individualität, die für immer verschwunden ist, wenn das Phänomen abgeflossen ist; sondern wir nehmen den Inhalt dieses Individuums, den Inhalt in seiner ganzen Fülle, der trotz dieser ganzen Fülle in unzähligen Exemplaren möglich wäre. Unbegrenzt viele mögliche Wahrnehmungen können absolut gleich sein der gegebenen Wahrnehmung, können absolut identisch sein hinsichtlich der Inhaltsidee, eben der konkreten Wahrnehmungsidee. Diese Idee ist eine niederste Differenz der Gattung Wahrnehmungsphänomen, sie hat im selben Sinn einen unendlichen Umfang, wie das geometrisch voll bestimmte Dreieck einen Umfang hat, nämlich eine Unzahl von individuellen Raumgegenständen sind denkbar, die (nacheinander) identisch dasselbe Dreieck in derselben vollen geometrischen Bestimmtheit als Figur haben. Ebenso gehört zur numerischen Zahl 2 ein unendlicher Umfang von Paaren individueller Dinge und sonstiger Besonderungen. Im Rahmen der Eidetik ist aber die niederste Differenz eben das Letzte, sie hat keinen eidetischen Umfang mehr und heißt daher letzte Differenz, oder absolut niederste Artung.
B II 19/44b "68" "44"
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So gehört also zu jedem Phänomen im Sinn der Phänomenologie eine bestimmte Idee als niederste Idee, und auf diese beziehen sich alle eidetischen Allgemeinheiten phänomenologischer Sätze. Andererseits ist von einer unterschiedenen Fixierung dieser niedersten Idee, von einer Fixierung in wissenschaftlich unterschiedene Eigenbegriffe keine Rede. In der phänomenologischen Wissenschaft gibt es keine singulären Urteile, derart wie wir sie in der Arithmetik kennen unter dem Titel numerische Urteile, z.B. Urteile über 7, es sei um 1 größer als 6, eine relative Primzahl etc. Zwischen den niedersten Ideen, den Ideen von den vollen Konkretionen und ihren Komponenten, und der obersten Kategorie cogit[atio] liegt nun die Mannigfaltigkeit von Ideen mittlerer Allgemeinheit, die das ideelle Substrat aller phänomenologischen Aussagen ausmachen. Im Übrigen verhält es sich mit den phänomenologischen Aussagen ebenso wie mit den normalen eidetischen Aussagen in allen anderen eidetischen Wissenschaften. Im Allgemeinen sind nicht die Ideen als allgemeine Gegenstände das, worüber ausgesagt wird, sondern im reinen Denken wird ausgesagt, also in unbedingter Allgemeinheit, was irgendeinem durch die Idee Bestimmten als solchem zukommen muss. Also in der Phänomenologie, was gilt für Erlebnisse überhaupt, die der Idee der Wahrnehmung überhaupt, näher der Dingwahrnehmung, der Geistwahrnehmung, der Erlebniswahrnehmung usw. zugehören? [1]
[1] Randbemerkung: Cf. gleich die Frage der Klassifikation 78 ff.
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Von Wesensbestimmungen, die den in voller Konkretion genommenen Bewusstseinserlebnissen in allgemeinster Allgemeinheit zukommen, haben wir zwei schon erwähnt, die beide Titel für nähere Analysen sind: Jede cog[itatio] ist eine zeitliche Einheit, sie hat ihre Dauer und in ihrer Dauer ihre Unveränderungen und Veränderungen.
Ferner, jede cog[itatio] ist Bewusstsein von etwas, sie ist Wahrnehmung von etwas, Urteil, das etwas urteilt, über etwas urteilt, von ihm etwas, ein Prädikat prädiziert, ein Werten von etwas, etwas wertend und es als Wertes nehmend usw. Diese Beziehung, die wir „intentionale“ nannten, fassen wir jetzt ins Auge, um daran eine wichtige Unterscheidung zu knüpfen.
Betrachten wir beispielsweise eine Wahrnehmung. Wir nehmen sie in voller Konkretion, mit dem ganzen Inhalt, in dem sie Erlebnis ist, und setzen das in Idee. Wir können dann diese Wahrnehmung einer reellen Analyse unterwerfen, d.i. einer Analyse in alle im Ganzen dieser Wahrnehmung reell vorfindlichen Momente und überhaupt Bestandstücke. Die Aussagen, die wir machen, gelten dann für eine Wahrnehmung überhaupt, sofern sie Wahrnehmung identisch desselben „Inhalts“, derselben Idee ist, und ebenso können wir dann allgemeinere Wesensgesetze für solche reellen Momente aussprechen. In dieser reellen Analyse des eidetisch behandelten Wahrnehmungsphänomens heben wir alle Konstituentien desselben hervor, z.B. dass diese Wahrnehmung ein Dauerndes, sich in der oder jener Richtung Veränderndes ist, dass sie das Moment der Aufmerksamkeit-auf, der Seinssetzung-von enthält, dass sie in sich charakterisiert ist als Bewusstsein von ihrem äußeren Gegenstand (nämlich wenn es sich um eine bestimmte „äußere“ Wahrnehmung handelt), dass sie in eins mit dem Moment der Aufmerksamkeit und Seinssetzung eine gewisse Erscheinung oder Erscheinungskontinuität enthält, die Erscheinung von diesem Gegenstand ist, dass diese Erscheinung in gewisser Weise in sich enthält gewisse sinnliche Data, wie Farbendatum, Tastempfindungsdatum u. dgl.,
B II 19/45b "69" "45"
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die ihrerseits „Auffassung“ erfahren als Erscheinung von Dingfarbe, von dinglicher Glätte oder Rauigkeit usw. Wir können beschreiben, wie das Moment Aufmerksamkeit sich modifizieren kann, wie das ganze Phänomen dadurch eine Wesensveränderung erfährt, wie darin unbeschadet solcher Veränderung die betreffenden Empfindungsdaten immerfort ihre Einheit bewahren können und wie sie immerfort auch ihren „Sinn“ erhalten als Darstellungen von gegenständlichen Bestimmtheiten, wie immerfort dabei die ganze Wahrnehmung ein allgemeineres Wesen behält, wie nämlich immerfort in ihr dasselbe Gegenständliche erscheinen und in gleichem Sinn erscheinen kann usw.
Das Genauere gehört in eine systematische Wesensanalyse der äußeren Wahrnehmung nach ihrem reellen Bestand, die wir hier nur ihrer allgemeinen Intention nach charakterisieren wollen, zugleich exemplarisch für jede reelle phänomenologische Analyse.
Blicken wir jetzt in die andere Richtung. Das Bewusstsein ist Bewusstsein von etwas, die äußere Wahrnehmung ist Wahrnehmung von einem Ding, etwa diesem Baum inmitten dieses Gartens. Im Sinne unserer phänomenologischen Reduktion ist keine Realitätssetzung und in keinem Sinne vollzogen, von uns als Phänomenologen vollzogen. Also ob dieser Baum und Garten existiert, ja auch nur existieren kann, ob [die] Möglichkeit einer Existenz von Dingrealem gültig angenommen werden kann oder nicht, das geht uns nichts an, das ist eingeklammert. Eidetisch setzen wir die reine Wahrnehmung und das, was zu ihr wesentlich gehört; und zu ihr, wie sie da ist, gehört es, Wahrnehmung von dem und dem zu sein. Dass sie das ist, gehört unabtrennbar zur Beschreibung ihres eigenen Wesens, und schon bei der reellen Analyse tritt das auf, im Ganzen und nach besonderen Momenten, z.B. wenn wir, in concreto beschreibend, sagen: In dieser konkreten Wahrnehmung liegt ein Moment Aufmerksamkeit, und zwar speziell Aufmerksamkeit auf die Baumzweige, die Aufmerksamkeit geht über auf den Stamm, dann auf die Umgebung, den Garten usw. Wir können solche reellen Momente nicht bezeichnen, ohne die Richtung der Intentionalität und den Sinn derselben zu bezeichnen.
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Dabei [1] aber bezeichnen wir und beschreiben wir unvermeidlich auch etwas, fassen es in Begriffe, was nicht reelles Moment der cog[itatio] , hier der Wahrnehmung selbst ist. Ich sage ja, was diese Wahrnehmung wahrnimmt, ist ein Baum, eine blühende Linde, im Garten usw. Was ich auf Seiten dieses Was beschreibe, ist kein Stück der Wahrnehmung selbst, sondern ihr „intentionaler Gegenstand“; wir beschreiben hier ihren „Gegenstand in Anführungszeichen“, ihr intentionales Korrelat und genau so, wie es da intentionales Korrelat ist, also den Baum genau so, wie er da erscheint. Es ist hier auf den Sinn dieser Beschreibungen im Rahmen der phänomenologischen Reduktion wohl zu achten. In der natürlichen Einstellung beschreiben wir auch, während wir eine Wahrnehmung vollziehen, den wahrgenommenen Gegenstand und sagen auch, dass das Wahrgenommene ist, eine blühende Linde im Garten usw. Und wir unterscheiden dabei auch die Beschreibung des Gegenstandes schlechthin und die Beschreibung des wahrgenommenen Gegenstandes, so wie er wahrgenommen ist. Den Gegenstand schlechthin beschreiben, d.i. aussagen, was ihm an konkreten Bestimmtheiten zukommt. Dazu muss ich, um begründet zu verfahren, von Wahrnehmung zu Wahrnehmung übergehen, mir den Gegenstand von verschiedenen Seiten ansehen, ich darf mich nicht auf einen Anblick beschränken; und was immer hier sonst noch zu nützlicher objektiver Beschreibung nötig ist, jedenfalls ist es klar, dass sie zu unterscheiden ist von der Beschreibung des wahrgenommenen Gegenstandes in den Schranken dieser Wahrnehmung, also Fixierung des Wahrgenommenen, so wie es da wahrgenommen ist. In der natürlichen Einstellung beschreibe ich aber immer die Wahrnehmung als meine oder irgendjemandes Wahrnehmung und den Gegenstand als den daseienden Gegenstand. In der phänomenologischen Urteilsweise ist die Daseinssetzung der beiderseitigen Realitäten ausgeschaltet, und was ich behalte, ist das von der Wahrnehmung Gesetzte als solches und so, wie es in ihr gesetzt bzw. auch, wie es in ihr als selbstgegenwärtig Erscheinendes ist. Jetzt haben wir nicht in natürlichem Sinn eine daseiende blühende Linde in dem Garten, sondern
[1] Randbemerkung: Cf. 21, Februar 1911 [=Hua XIII, 143, 8-145,4]
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diese reduzierte Wahrnehmung und dass sie Wahrnehmung von einem Etwas ist, etwas, das „vermeint ist“, wie wir sagen, als selbstgegenwärtige Linde und in dem vermeinten Garten. Und wenn wir hier beschreiben blühende Linde, Geflecht der Zweige, weit schattende Krone usw., so ist jeder Schritt der Beschreibung nicht nur gebunden daran, dass nichts ausgesagt werden kann und darf, was nicht Wahrgenommenes ist, sondern auch darin, dass die Beschreibung einen modifizierten Sinn erhält. Jedes Prädikat steht in Anführungszeichen, drückt Vermeintes als solches aus. Und wenn die Beschreibung richtig ist, so mag sie evident sein, und sie kann und soll evident sein. Aber jedes Wort erhält hier seinen Sinn nur in der getreuen Anpassung an das Vermeinte als Vermeintes, an das Erscheinende als Erscheinendes, und dieser Sinn ist gegenüber den natürlichen Dingbeschreibungen und Wahrnehmungsbeschreibungen ein kardinal modifizierter.
Wir können auch sagen, wir beschreiben hier nicht ein Ding und dingliche Beschaffenheiten, sondern den zum Wesen der Wahrnehmung gehörigen Gegenstandssinn, und das ist es, was wir als Wahrnehmungskorrelat bezeichnen. Und ebenso bei allen Phänomenen, allen konkreten cogit[ationes] . Auf das Korrelat können wir und müssen wir als Phänomenologen hinblicken, und wir können unseren Blick zeitweise rein darauf einstellen. Alle Beschreibungen verwenden dabei ontologische Ausdrücke, Ausdrücke, welche ontologische Kategorien enthalten, wie Ding, Eigenschaft, dingliche Relation, Dauer des Dinges oder Vorganges usw., aber niemals haben wir es mit realen Wirklichkeiten zu tun, sondern mit dem in der Wahrnehmung liegenden, zu ihr wesentlich gehörenden ontischen Sinn, also mit dem Korrelat und Komponenten des Korrelats. Wenn man seit der Scholastik geschieden hat wirklichen Gegenstand und intentionalen Gegenstand oder „immanenten“, so war man hierbei geleitet von diesem Unterschied zwischen Gegenstand schlechthin (was immer besagt schlechthin als seiend
B II 19/47a "71" "47"
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Gesetztes) und intentionales Korrelat der auf den Gegenstand gerichteten cogit[ation] es der Wahrnehmungsakte, der Erinnerungsakte usw.
Sofern [1] man über Korrelate urteilen kann, wahre und falsche Urteile über sie fällen kann, sind sie selbst Gegenstände (in einem allerweitesten Wortsinn von Gegenstand), aber sie sind Gegenstände einer neuen und völlig eigentümlichen Seinskategorie, der Kategorie eben intentionales Korrelat. Es besteht hier die große Gefahr, der die Philosophen und Psychologen seit der Scholastik immer wieder unterlegen sind, diese Kategorie mit anderen Seinskategorien zu vermengen, also das sogenannte immanente gegenständliche Sein, das Sein etwa des Vorgestellten als solchen als Korrelatsein, zu verwechseln mit einem wirklichen Sein. So insbesondere bei der Vorstellung physischer Dinge. Man verwechselte das Vorgestellte als solches mit dem wirklichen Sein eines dem vorgestellten äußeren Ding ähnlichen Gegenstandes im Bewusstsein, sozusagen als Bewusstseinsbild, oder auch mit dem wirklichen Sein eines unähnlichen andersartigen und dann jedenfalls psychischen Gegenstandes als Bewusstseinsrepräsentanten für den äußeren wirklichen Gegenstand. In letzterer Hinsicht wurde das Korrelat als reelles Stück des Bewusstseins vom Gegenstand gefasst, als ein reell immanentes Objekt im Bewusstsein, das im Bewusstsein wie ein Ding in einer Schachtel ist und in ihm den äußeren Gegenstand vertritt; dieser äußere in seinem An-sich-Sein mag ganz anders sein als sein Repräsentant, jedenfalls haben wir, meinte man, da wir über unsere Schachtel nicht hinauskönnen, nicht das mindeste Recht, eine bildhafte Ähnlichkeit zu behaupten.
Aber das alles sind Verkehrtheiten, die aus mangelhafter Analyse und Beschreibung erwachsen und nicht zum mindesten aus dem Mangel an rein phänomenologischer Einstellung und Methode. Wir unsererseits fixieren zunächst, dass es eine andere Sache ist, eine cogit[atio], etwa eine mit ästhetischer Freude vollzogene Lindenwahrnehmung nach ihren reellen Momenten zu beschreiben, wobei wir Momente wie Seinssetzung, der Wertung, der Aufmerksamkeit, den Empfindungsgehalt so und so aufgefasst etc. beschreiben und dabei eventuell zu Zwecken solcher reeller Analyse auf das Korrelat hindeuten und es bezeichnen. Und fürs Zweite das Korrelat selbst beschreiben,
[1] Wohl Beginn einer neuen Vorlesungsstunde (Samstag, 13. Juli 1912).
B II 19/47b "71" "47"
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analysieren, als was das Wahrgenommene in der Wahrnehmung und als Gewertetes in der ästhetischen Wertung bewusst ist, welchen Sinnesgehalt die Wahrnehmung mit diesem Korrelat hat, was alles in diesem Korrelat an Komponenten liegt. Und so überall, wo wir nicht das konkrete Phänomen in seinen reellen Bestandstücken analysieren, nicht das jeweilige „Vermeinen“, sondern das Vermeinte als solches.
Das Vermeinte als solches gehört allerdings zum Vermeinen, das Wahrgenommene zum Wahrnehmen, das Erinnerte zum Erinnern, das unklar Vorgestellte zum unklaren Vorstellen usw. Man kann auch sagen, das Wahrnehmen, das Erinnern etc. „habe“ in seinem Wesen das Wahrgenommene, das Erinnerte als solches. Und doch geht es nicht ohne weiteres an, dieses „haben“ als reelles In-sich-Haben in der Weise eines Teiles, eines Stückes oder Momentes anzusehen. Vielmehr werden wir zugestehen müssen, dass das Haben eines Korrelates etwas völlig Eigenartiges ist gegenüber dem Haben reeller innerer Momente, eigentlicher Konstituentien. So geartet ist eben Meinen, dass es etwas meint, und jeder Komponente des Gemeinten als solchen entspricht eine Komponente als reelle Komponente des Meinens. Wenn wir beispielsweise, dieses klarzumachen, von Erscheinung zu Erscheinung, von voller Wahrnehmung zu neuer Wahrnehmung übergehen (und zwar seien es Wahrnehmungen, von denen wir sagen, dass sie Wahrnehmungen eines und desselben, sich von verschiedenen Seiten darstellenden und immerfort identischen und als identisch dastehenden Dinges sind), dann hat jede dieser Wahrnehmungen ihr Dingvermeintes; und dasselbe ist Vermeintes mit den und den vermeinten Farben, Formen usw., die gerade in dieser Wahrnehmung teils zu intuitiver Gegebenheit kommen, teils in leerer und mehr oder minder unbestimmter Weise Mitgemeintes sind. Im Übergang von Wahrnehmung zu Wahrnehmung finden wir dann vor Identität im Vermeinten.
B II 19/48a "72" "48"
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Das Etwas, das Dingvermeinte, ist in all diesen Wahrnehmungen dasselbe Etwas, dasselbe, das einmal in der Weise, mit dem anschaulichen Gehalt, das andere Mal in jener Weise, mit einem anderen Anschauungsgehalt Gemeintes ist. Beschaffenheiten desselben Etwas, die einmal „unbestimmt“ geblieben sind, erhalten das andere Mal ihre Näherbestimmung usw.
Der Einheitspunkt, das Identische, ist Identisches im Korrelat. Die verschiedenen Wahrnehmungen haben zwar jede ihr „etwas“ in sich, jede vermeint das Etwas. Und das Etwas ist identisches Etwas. Aber nicht ist das reelle Moment des Dieses-Etwas-Vermeinens in jeder der Wahrnehmungen ein identisches, vielmehr in jeder Wahrnehmung ein anderes. Wenn eine Wahrnehmung verflossen ist, ist ihr Etwas-meinen dahin, ganz und gar, wie sie selbst dahin ist. Es setzt sich nicht individuell fort in die neue gleichsinnige Wahrnehmung. Aber das Korrelat-Etwas ist identisches Etwas. Und ebenso verhält es sich mit jeder Korrelatbeschaffenheit des identischen Etwas, also des identischen Dinges in Anführungszeichen. Das Ding steht etwa als rot da. Im Zusammenhang fortgehender und immer wieder neuer und sich verändernder Wahrnehmungen von demselben roten und immerfort rot erscheinenden Gegenstand ist das Roterscheinen immer wieder als reelles Moment ein Neues, das vermeinte gegenständliche Rot aber ist identisches Korrelat, identisch in der Weise einer dauernden Rotbeschaffenheit. Das reelle Rotbewusstsein ist ein kontinuierlich dahinfließendes, das Rotbewusste ein dauernd Identisches. Das aber immer genommen als Sinn, den wir beschreiben, nicht als Faktum der Wirklichkeit.
Das dürfte evident machen, dass die Kategorie Bewusstsein selbst und die Kategorie Bewusstseinskorrelat zwar aufeinander angewiesen sind, eins das andere fordernd, dass aber die Kategorien wesentlich verschiedene Kategorien sind (ein Korrelat, das nicht Korrelat von Bewusstsein ist, ist ein Undenkbares, ebenso wie Bewusstsein Bewusstsein von etwas ist). Und ebenso sind auch die Kategorien Gegenstand, Objektives in jedem Sinn in Anführungszeichen und die Kategorie „Gegenstand schlechthin als Wirklichkeit“ grundwesentlich verschieden und doch a priori aufeinander bezogen.
Aus unserer Betrachtung ersehen Sie zugleich, dass der Titel Korrelat ein allgemeiner für sehr verschiedene Vorkommnisse auf Seiten der Vermeintheiten ist: Ich erinnere nur an das identische Etwas, an den
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identischen Gegenstand in Anführungszeichen, der in verschiedenen Wahrnehmungen identisch Vermeintes ist, und an diesen Gegenstand im Wie seines Vermeintseins, mit bald dem, bald jenem Gehalt an Bestimmtheiten und Unbestimmtheiten. All das sind große Themen für nähere Untersuchungen. Hier handelt es sich nur darum, Linien für mögliche Untersuchungen zu entwerfen, und das aufgrund fundamentaler Unterscheidungen, die zunächst aufgewiesen werden müssen, damit sie für die Richtungen der Analyse bestimmend werden können.
Es bedarf für die beiden Richtungen der Analyse und der ganzen Wesensbetrachtung mitunter eines passenden terminologischen Ausdrucks. Ich pflege für jede Feststellung reeller Bestandstücke eines Phänomens den Ausdruck „phansisch“ zu gebrauchen, ich nenne nämlich die cogit[atio] selbst, sofern sie als Ganzes reeller Bestandstücke (als gebend, als besitzend) angesehen ist, „Phansis“. Jede auf nicht reelle Korrelate gerichtete Untersuchung nannte ich früher „ontisch“: Sie geht auf den vermeinten Gegenstand oder auf solches, was zum vermeinten Gegenstand als solchen in sachlicher Beziehung steht. Die nähere Untersuchung zeigt, dass hier in der Regel verschiedene Richtungen zu unterscheiden sind, in denen intentionale Korrelate erfasst werden können, und dass im Vollzug eines Bewusstseins nicht alle diese Richtungen eingeschlagen sind, dass aber verschiedenen Reflexionen, von einem und demselben Bewusstsein ausgehend, verschiedene Korrelate aus ihm entnehmen lassen. Es genügt aber wohl, hier allgemein von Korrelaten zu sprechen, und darin befassen wir alles im Bewusstsein seinem Wesen nach so Bewusste, dass das, was da bewusst heißt, nicht ihm als reelles Moment zuzusprechen ist. Es ist übrigens zu beachten, dass die Rede von Bewusstsein sehr vieldeutig ist und dass ich darum so sehr es liebe, cogitatio zu sagen. In gewissem Sinn heißt auch die cog[itatio] selbst noch bewusst und somit auch alle ihre reellen Momente, und andererseits, wenn wir die cog[itatio] selbst Bewusstsein-von nennen, so ist das Korrelat das auf Seiten des „von“ Stehende. Die Teile der cog[itatio] sind in ihr enthalten, aber nicht in diesem Sinn bewusst, nicht Cogitiertes.
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Verweilen wir noch einen Augenblick bei diesem Thema der Korrelate, und machen wir uns noch an anderen Beispielen die Verschiedenartigkeit der unter dem Titel Korrelat befassten Vorkommnisse deutlich. Knüpfen wir an einen Zweifel an, den in Ihnen vielleicht die Gegenübersetzung von Gegenstand in Anführungszeichen, als Korrelat also, und wirklichem Gegenstand der Wahrnehmung und sonstigen Bewusstseins von Realem erweckt haben mag. In der phänomenologischen Forschung haben wir es mit der cog[itatio] selbst und ihren Korrelaten zu tun. Wir urteilen also nicht über den wirklichen Gegenstand, sondern über Gegenstand als Korrelat. Also scheint es, dass wir damit auch die Probleme, welche das Wesen der Beziehung des Bewusstseins auf Wirklichkeit und speziell die Probleme der Erkenntnismöglichkeit von Realem, wirklichem Realen, [angehen] , ausgeschaltet haben. Wir knüpfen hier an, um zunächst zu zeigen, dass auch das „Wirkliche“ uns in unserer Sphäre als Korrelat auftritt, und zwar in eigener Weise, als ein eigenes Korrelat.
Gehen wir aus von einer äußeren Wahrnehmung. Zu ihr gehört es wesentlich, einen Gegenstand, etwa ein Ding oder einen dinglichen Vorgang, zur Erscheinung zu bringen. Ebenso aber auch [tun dies] eine Erinnerung und nicht minder eine bildliche Anschauung und wiederum eine freie Phantasie. Und in allen diesen Anschauungsarten kann die Anschauung eine einzelne sein; oder es kann eine bald kontinuierliche, bald diskrete und dann synthetisch vereinigte Mannigfaltigkeit von einzelnen Anschauungen Erlebnis sein, in denen bewusstseinsmäßig derselbe Gegenstand angeschaut ist. Wir können uns auch den Fall so denken, dass der Gegenstand, der da jeweils erscheint, und zwar sowohl der Gegenstand schlechthin wie der Gegenstand im Bestand seines erscheinenden bestimmten und unbestimmten Beschaffenheitsgehalts, überall völlig gleich ist. Etwa ein Baum ein inhaltlich bestimmter Baum: In der Wahrnehmung bzw. Wahrnehmungsreihe steht er da, von den und den Seiten, in der bestimmten Orientierung, in einer bestimmten Dauer, in der Dauer so und so sich verändernd, nach gewissen unsichtigen Seiten mitaufgefasst, aber in einer gewissen Weise der Unbestimmtheit vorstellig. Im Bild, sei es einem ruhenden Bild, sei es etwa einem kinematographischen,
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kann alles genauso sein, es ist wieder eine Linde genau gleichen Inhalts usw. Dann nicht minder in der Erinnerung, in einer freien Phantasie, eventuell in einer freien Phantasie von einem kinematographisch Erscheinenden usw.
Wir werden darum nicht sagen dürfen, alle diese cog[itationes] haben dasselbe Korrelat, oder auch nur ein völlig gleiches Korrelat. Jeder neuartige Akt hat ein neuartiges Korrelat. Die Korrelate können gleiche Momente enthalten, aber sie müssen auch verschiedene enthalten. Und verschiedene Richtungen im Korrelat scheiden sich dabei ab. Solche Unterschiede sind z.B.: In der Wahrnehmung steht der Gegenstand als selbst gegenwärtig, als leibhaft jetzt seiend da, in der Erinnerung als vorhin gewesen, als vergangen und in eigentümlicher Weise selbst vergegenwärtigt, im perzeptiven Bild, etwa einem Gemälde oder einer kinematographischen Bilddarstellung, als bildlich vergegenwärtigt, in der Phantasie als phantasiert usw. Da scheiden sich Gegenstand in Anführungszeichen und gewisse Charaktere, wie leibhaft oder originär selbst präsentiert, vergegenwärtigt, bildlich. Aber damit verbinden sich andere Charaktere, die auch als Charaktere am Gegenstand in Anführungszeichen dastehen, an ihm erfasst werden. Zum Beispiel wenn wir vergleichen Wahrnehmung und freie Phantasie, ebenso aber auch Erinnerung und freie Phantasie, so fällt uns da sofort auf: In der Wahrnehmung ist der Gegenstand als Wirklichkeit gesetzt, nicht minder auch in der Erinnerung. Oder genauer: Der Gegenstand, der charakterisiert ist als leibhaftig jetziger, jetzt dauernder, trägt zudem den Charakter des Wirklich. Ebenso in der Erinnerung der Gegenstand, der charakterisiert ist als vergegenwärtigter, in vergegenwärtigter Dauer, als soeben gewesener, ist mitsamt diesem Charakter charakterisiert als wirklich. Dagegen: In der bloßen Phantasie ist kein Wirklichkeitscharakter mit dabei. Ob ich mich hineinphantasiere in ein Wahrnehmen oder auch in ein Erinnern, es ist eben ein Phantasieren und kein Wahrnehmen und Erinnern, und demnach hat das Korrelat einen geänderten Charakter. Der tanzende Zentaur, den ich mir imaginiere, steht nicht da als Wirklichkeit.
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Analysieren wir also so geartete Phänomene und in phänomenologischer Reduktion, so setzen wir zwar nicht selbst als Phänomenologen Wirklichkeit, Nichtigkeit u. dgl. Aber im Korrelat finden wir das Wirklich in Anführungszeichen, das Nichtig in Anführungszeichen. Natürlich hätten wir auch andere Beispiele noch heranziehen können: z.B. den Übergang eines normalen Wahrnehmens in einen perzeptiven Zweifel, in eine bewusste Illusion u. dgl. Zuerst steht eine Sache schlechthin als Wirklichkeit da. Dann werden wir bedenklich, zweifelhaft; nun hat sie den Charakter des Zweifelhaft. Dann kommt uns die Illusion zu Bewusstsein, und die Sache, die noch immer erscheint, hat den Charakter des Nichtig.
Solche Charaktere sind nicht Sache der cogit[atio] selbst, ihr als reelle Momente zugehörig, sondern sie wie alle ähnlichen Charaktere geben sich als Charaktere am Gegenstand in Anführungszeichen, sie sind Korrelatmomente, und offenbar etwas total anderes als die Korrelatmomente, die das ausmachen, was wir Gegenstand in Anführungszeichen nennen.
Aus unseren Betrachtungen sehen Sie, in wie verschiedenen, ja kardinal verschiedenen Richtungen solche „Charaktere“ liegen und sich sondern.
(Auch das „unbestimmt“ ist ein Charakter, wie wenn wir z.B. einen Gegenstand vorstellen oder denken, aber eben „unbestimmt“. Es mag sogar eine Wahrnehmung sein, wir sehen den Gegenstand, aber „unbestimmt“. Im Übergang zu näherer Bestimmtheit ist das Sich-Bestimmen eine Modifikation, die sich im Korrelat vollzieht.) Wenn das „wirklich“ sich in neuen Bewusstseinsreihen, die eine gewisse Art inneren Baues haben, wie es heißt, „bekräftigt, bestätigt, bewährt“, so sind das Vorkommnisse im Korrelat, und nur in der Einstellung, die dem Korrelat zugewendet ist, zu studieren. Sie sehen auch leicht, dass, was hier an Unterschieden angedeutet worden ist, sich nicht auf irgendwelche speziellen Sorten von cog[itationes] beschränkt, dass wir vielmehr, sei es Verwandtes, sei es Gleiches in allen Sphären finden. So steht uns, wenn wir im Gefallen leben,
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ein Gegenständliches als gefällig da, in der Freude als erfreulich u. dgl. Das sind Wertcharaktere, die man zunächst mit den Charakteren wirklich, möglich, zweifelhaft und ähnlichen auf eine Stufe stellen möchte. Aber das wertende Bewusstsein, in dem Wertcharaktere als Korrelate liegen, kann den Modus der Gewissheit haben, und dann steht das Gefällige als wirklich gefällig da, oder es kann andere Modi annehmen; es fehlt die Sicherheit, die Sache mutet sich nur als gefällig an, als schön, gut oder dergleichen. Wir geraten dabei vielleicht in Zweifel, ob wir die Sache wirklich als schön gelten lassen sollen, bzw. ob sie uns „wirklich“ gefällt oder nicht; und eventuell schlägt das Bewusstsein um, und dabei erfährt das „gefällig“ eine Durchstreichung, es ist „nicht“ gefällig usw. Das alles sind eben die großen Themen der Studien.
Es ist die Art der Phänomenologie wie jeder sich begründenden eidetischen Wissenschaft, was in unmittelbarer Wesensintuition zu fassen ist, so eben zu fassen und auf exakte Begriffe zu bringen; insbesondere kommt es darauf an, streng alle Vorurteile auszuschalten und streng phänomenologische Reduktion zu üben, innerhalb ihrer dann das Gegebene absolut treu zu nehmen, wie es sich gibt. Das sind ja triviale Regeln, und doch sagen sie sehr viel gegenüber der allgemeinen Blindheit für das phänomenologisch Gegebene und gegenüber dem Sensualismus, in dem wir alle erzogen sind und der uns, noch nachdem wir seine groben Formen überwunden haben, behelligt. Hat man schon den Weg zum phänomenologischen Gebiet gefunden, hat man schon die Grundtatsache des Bewusstseins, die Intentionalität, erfasst und die sensualistische Neigung, das Bewusstsein für eine tabula rasa zu halten, auf welcher allerlei sinnliche Zeichen sich einschreiben, erstickt, so bleibt doch noch ein Rest von Verdinglichung der Phänomene übrig: Man sieht nur oder will nur anerkennen reelle Teile und Seiten der Phänomene, man unterschlägt die Korrelate und deutet sie in reelle Eigentümlichkeiten um.
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Für diesen Fehler kommt es übrigens zunächst nicht auf den Unterschied zwischen Phänomenologie und immanenter Psychologie an. Schon auf dem Boden der Psychologie ist es von fundamentaler Bedeutung, dass man in der Fixierung der aktuellen Erlebnisse, die uns im empirischen Bewusstsein als cog[itationes] auftreten, in richtiger Weise beschreibt, was da wirklich immanent vorliegt, und dass man nicht reelle Momente und Korrelate in der Beschreibung durcheinander wirft. Ehrlich beschreiben, zu ehrlichem Ausdruck bringen, was in direkter Intuition gegeben ist, und genau so, wie es da gegeben ist, darauf kommt es an und das muss man lernen. Ein Ding kann freilich keine anderen inneren Eigenschaften haben als konstitutive: Es kann nichts anderes haben als seine Teile und Momente. Ein Bewusstsein, eine cog[itatio] ist aber kein Ding. Es „hat“ in kardinal verschiedenem Sinn. Dass in einem Bewusstsein „etwas“ als „gegenwärtig“ und „wirklich“ oder „unwirklich“ oder „zweifelhaft“ bewusst ist, das drückt unter dem Titel Bewussthaben etwas aus, und etwas vielfach Beschreibbares aus, was nicht [als] Teil der cog[itatio] Gehabtes ist. Und so, wie es da erfasst ist, muss es in Wesensüberlegung gezogen und wissenschaftlich beschrieben werden.
Freilich sind die Schwierigkeiten groß, da wir sozusagen in einer un-natürlichen Einstellung sind und etwas fixieren, setzen, deskribieren sollen, was uns völlig fremd ist, das zu fixieren wir eben nie gelernt haben. Daher werden heutzutage auch dem Fortgeschrittensten gelegentlich Verwechslungen unterlaufen, oder er wird durch unvermerktes Übergehen von einer in andere Schichten in Verwirrung und Zweifel geraten. Alle wirklich begründende Untersuchung vollzieht sich hier zwar in der Evidenz. Würde man immerfort in der Evidenz verbleiben können, so wäre alles gut. Aber das in Evidenz Fixierte nimmt man als gültig in Anspruch, wenn man späterhin nicht mehr Evidenz hat, und dann ist die Möglichkeit offen, dass man die Worte nicht mehr genau in dem Sinn nimmt, den sie
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durch Anmessung an Gegebenheiten der Intuition haben sollten. Auch vollzieht sich das auf Beziehungen, auf weitreichende Zusammenhänge gerichtete Denken vielfach in unvollkommener Intuition; man wird gelegentlich übrigens auch lässiger, begnügt sich mit halber Klarheit, wo die ganze sich nicht von selbst einstellt und vielleicht auch, da wir nicht disponiert sind, sich gerade nicht einstellen will usw. Reine und vollkommene Intuition ist ja keineswegs das Leichteste, sondern das Allerschwerste, und so ist denn auch in der Phänomenologie, so sehr ihr Absehen auf rein intuitive Feststellung gerichtet ist, kein Kraut gewachsen, das uns zu absoluter Irrtumslosigkeit verhelfen könnte.
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Die [1] Unterscheidung zwischen dem in der cog[itatio] reell Enthaltenen, dem, was ihr als Phansis zugehört, und dem, was Sache ihrer Korrelate ist, darf nicht mit einer anderen Unterscheidung vermengt werden.
(Uns kann dabei leiten eine Redeweise, die man zunächst versucht ist, für unsere Unterscheidung zu verwenden, die aber leider wegen ihrer Vieldeutigkeit unbrauchbar ist. Man möchte nämlich sagen, der Unterschied sei zu bezeichnen als der zwischen reellem und ideellem Bestand der cogit[atio] , oder reell und ideell enthalten. Aber abgesehen von der Äquivokation, die das Wort ideell insofern hat, als es auch das Eidetische bezeichnen kann (wobei zu bemerken ist, dass auch all unsere reelle Analyse eidetisch ist), kann das Wortpaar reell und ideell auch in der ausschließlich phansischen Sphäre Anwendung finden und wird auch darum unbrauchbar. Wir nehmen das als Brücke, um eine Unterscheidung innerhalb der phansischen Sphäre zu gewinnen: es ist jene, die wir vor Zusammenverwerfung mit unserer vorhin besprochenen Unterscheidung bewahren wollen.)
Die reellen Komponenten der cog[itationes] sind von grundverschiedener Artung, und insbesondere heben sich ab das, was in den Logischen Untersuchungen [als] Aktcharaktere bezeichnet ist, und die „Stoffe“, die gewissermaßen durch diese Charaktere Formung erfahren, gleichsam eine Beseelung, die es macht, dass die Einheit von Stoff und Form die jeweilige Bewusstseinsbeziehung auf etwas gewinnt. Das Stoffliche sind die in den Logischen Untersuchungen sogenannten primären Inhalte, wie z.B. der Rot-Inhalt, die Rot-Empfindung, genau so wie sie reelles Moment der cogit[atio] Wahrnehmung ist. Oder die Geruchsempfindung, Tastempfindung usw. Das reelle Rotmoment ist dabei nicht das erscheinende Rot des Gegenstandes, das Rot, das die erscheinende Figur des Gegenstandes bedeckt: als Vermeintes ist es natürlich Sache des Korrelats.
[1] Beginn einer neuen Vorlesungsstunde (Mittwoch, 17. Juli 1912).
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Während das gegenständliche Rot im Wahrnehmen eines unveränderten Gegenstandes und im Fortgang von Wahrnehmung zu neuer und neuer Wahrnehmung, solange es überhaupt in die Wahrnehmung fällt, dasselbe unveränderte gegenständliche Rot ist, ist und sogar notwendig das reell in der Wahrnehmung vorfindbare Empfindungsrot durch Reflexion auf den phansischen Gehalt des Wahrnehmungserlebnisses zu erkennen als ein immerfort und notwendig sich änderndes. Wir sagen da, die Eigenschaft Rot des Gegenstandes stelle sich im Wahrnehmen in einer Mannigfaltigkeit von Empfindungsabschattungen dar. Diese reellen sinnlichen Momente sind Beispiele für die in den Logischen Untersuchungen so genannten „primären Inhalte“. Die Wahrnehmung aber besteht nicht aus einem Fluss solcher primärer Inhalte bzw. aus einem Komplex von solchen Flüssen von abfließenden Farbendaten, Tastdaten, Tondaten u. dgl. Die Wahrnehmung enthält sie, aber sie ist Bewusstsein von dem Gegenstand, von seiner räumlichen Form, von seiner Dauer, von seiner roten Farbe, von seiner Rauigkeit, seiner Elastizität, Festigkeit etc. Ist das aber so, dann muss über die primären Inhalte, die Empfindungsdaten, hinaus ein Überschuss da sein, der nicht selbst wieder sinnliches Datum ist und der eben das Bewusstsein als solches ausmacht und der es zunächst macht, dass ein Gegenstand und ein solcher, so orientierter erscheint. Auf Seiten dieses Überschusses liegt also das Bewusstheit Machende, das Sinngebende, gleichsam Beseelende: Das befasst der Titel Aktcharakter der Logischen Untersuchungen (oder, wie ich da gelegentlich auch sage, „Reflexionsinhalt“; ein Wort, das ich nicht mehr gebrauche). Es ist nun evident, dass die primären Inhalte und die spezifischen Bewusstseinsmomente sozusagen grundverschiedenen Dimensionen angehören, dass sie ganz unvergleichbar sind. Die verschiedenen Empfindungen wie Rotempfindung, Geruchsempfindung, Tastempfindung usw. mögen verschiedener Gattung sein, aber sie gehören als primäre Inhalte wesentlich zusammen. Andererseits ebenso alles das, was als Bewusstsein-von Ausmachendes diese Stoffe gewissermaßen beseelend gestaltet.
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In den bloßen primären Inhalten liegt noch gar nichts von einem „von“, von einem Sich-beziehen-auf. Das kommt erst durch das, was wir [als] Auffassung, Glaubenssetzung, Aufmerken u. dgl. bezeichnen. Und das ist etwas grundwesentlich anders Geartetes. Andererseits hat es in sich wieder seine großen, ja kardinalen Verschiedenheiten, und was da zusammengefasst ist, ordnet sich nicht etwa so nebeneinander wie Farbe und Ton. Zum Beispiel das reelle Moment in cogit[ationes] , das wir Aufmerksamkeit nennen, oder, allgemeiner, was wir Modi der Zuwendung nennen, enthält in sich das intentionale Sich-beziehen-auf. Primär Bemerken ist Bemerken von etwas ebenso wie sekundär Bemerken. Aber etwas total anderes ist das Moment der Seinssetzung, [das] Moment der Setzung in Form von Gewissheit, in Form von bloßer Anmutung, in Form von bevorzugender Vermutung oder von Zweifel u. dgl. Und wieder etwas anderes ist das Moment der Auffassung, das im Wechsel solcher Charaktere ein identisches Wesen behält. Zum Beispiel eine Dingerscheinung bleibt dieselbe, während ich übergehe von gläubigem Hinnehmen des dinglichen Daseins zum Zweifel oder zum Vermuten u. dgl., und wieder, wenn ich die Aufmerksamkeit (ohne dass die Erscheinung sich [zu] ändern bräuchte) verschieden einstelle auf verschiedene Seiten des Erscheinenden. Ähnlich in der Gemütssphäre: In der Freude leben und freudig zugewendet sein oder sich freuen, aber nicht im sich freuen zugewendet sein, das sind Unterschiede. Die Zuwendungsmodi sind eigene Modi, und ihnen gegenüber haben wir sozusagen die Freudensetzung, die auch neben sich haben kann Freudenanmutung, Zweifel usw. Natürlich soll nicht gesagt sein, dass es sich mit dem einen und anderen um getrennte oder trennbare Stücke der Phansis und speziell der Bewusstseinsseite der Phansis, der Aktseite handele. Es sollte nur gesagt sein, dass wir in ihr sehr verschiedene Richtungen möglicher Modifikation, verschiedene, eventuell nur abstrakt unterscheidbare Momente finden. Und all diese Momente gehören doch wieder zusammen, in allen finden wir das Eigentümliche des Bewusstseins „von“, das wir andererseits in den primären Inhalten nicht finden, während sie doch in der konkreten Einheit etwa eines Wahrnehmungsphänomens mit darin sind, eigentümlich umflossen vom Aktcharakter, mit ihm eins und gerade in dieser Einheit das konkrete Wahrnehmungsbewusstsein ausmachend.
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Notiz von Husserl: 78-90 fehlt (herausgenommen, es behandelt Klassifikation der intentionalen Erlebnisse)
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Brentano [1] ist es, der die wissenschaftliche Psychologie gründen will auf eine Klassifikation des Psychischen, wobei ihm das Psychische im Sinn der Psychologie sich alsbald verwandelt in die immanenten Bewusstseinsgegebenheiten. Psychologische Erfahrung wird identifiziert mit „innerer“ Erfahrung, und das besagt wieder: Erfahrung von den cogitationes in unserem Sinn. Dabei stellt es sich heraus, dass er die sinnlichen Data unter dem Titel „physische Phänomene“ ausschaltet, da er sie in der Tat mit physischen Phänomenen im echten Sinn vermengt. Und so bleiben ihm unter dem Titel psychisches Phänomen nur die verschiedenen Charaktere der Bewusstheiten übrig, die verschiedenen Momente, in denen ein Sich-Beziehen auf etwas als vorstellendes, urteilendes usw. sich vollzieht. Da ist aber der Boden der Konkretion schon verlassen. Es handelt sich offenbar um unselbständige Momente der vollen cog[itationes] , die vielleicht aus erkenntnistheoretischen und werttheoretischen, kurzum, aus philosophischen Gesichtspunkten besonders interessant sind, die aber nichts Volles und Ganzes, sondern bloß Momente am Ganzen sind. Wenn Brentano klassifikatorisch nebeneinanderstellt Vorstellung, Urteil, Gemütsakt, so gesteht er doch selbst zu, dass ein Urteil und ein Gemütsakt nicht möglich sind ohne zugrunde liegende Vorstellung. Also ist ein Urteil nicht eine neue Gattung neben Vorstellung, sondern ein unselbständiger Charakter, der hinzutritt, ebenso wie der Charakter des Begehrens, des Liebens u. dgl., der sich eventuell über einem Urteilen baut und doch nicht etwas konkret Selbständiges ist neben dem Urteilen.
Worauf es schon zu psychologischen Zwecken, und zwar zu Zwecken einer exakten psychologischen Elementarlehre, und erst recht zu Zwecken einer Phänomenologie des Bewusstseins ankommt, das ist eine zweckbewusste Analyse
[1] Randtitel von Edith Stein: Klassifikation der Bewusstseinsgestaltungen.
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der in der exemplarischen Intuition sich darbietenden konkreten Gestaltungen und eine exakte Fixierung der verschiedenen Gattungen und Arten von Wesenscharakteren und der Arten ihrer Einigung zu Komplexen. Was zunächst erfasst wird, ist natürlich ein Typisches und Komplexes.
Man hebt aber nicht einen empirischen Typus heraus, es kommt auf das Faktum nicht an, dass solch ein Konkretum einen Typus expliziert, der in der Erfahrung öfter auftritt, sondern man erfasst eine reine konkrete Idee, etwa die Idee der Tischwahrnehmung, der Baumwahrnehmung, oder dann gleich allgemeiner: der Dingwahrnehmung, ebenso die der Dingerinnerung, der Dingphantasie u. dgl., und vollzieht daran Analysen, hebt Partialmomente, verschiedene Charaktere hervor, die dann selbst wieder unselbständige Ideen sind. Vergleichend kann man dann von den einen auf die anderen Gestaltungen hinblicken. Hat man schon einigen Blick für die Wesenscharaktere durch Einzelanalysen gewonnen, so fallen eventuell sehr früh durch große Bewusstseinsgebiete hindurchgehende, sie einigende allgemeine Charaktere auf bzw. unterschiedene Richtungen überall möglicher Modifikationen, und es ergeben sich so Gesichtspunkte für die Sonderung von Untersuchungsrichtungen. Es ergeben sich dann innerhalb der Grenzen, die ein streng fixierter Gattungsbegriff steckt, auch Klassifikationen, so z.B. die Klassifikation der verschiedenen stellungnehmenden Akte, oder innerhalb der Gattung intellektive Stellungnahme Grundunterschiede wie Gewissheit, Anmutung, Vermutung u. dgl. Aber zuerst gilt es, da die allgemeinen Wesenscharaktere herauszuarbeiten, die gattungsmäßig den Rahmen solcher Unterscheidungen bestimmen.
Keinesfalls aber kann eine Systematik des Baues der Phänomene, eine systematische Angabe der Gattungen von Komponenten, die da auftreten können, der verschiedenen Richtungen kardinaler Modifikationen, die sie erfahren, der Grundformen von Synthesen, die sie eingehen können, am Anfang der Untersuchung und ebenso wenig am Anfang der lehrhaften Darstellung stehen. Dergleichen ergibt sich erst auf Grund vielfältiger spezieller Analysen, deren Darstellung auch die Voraussetzung des Verständnisses ihrer Darstellung sind. Denn am Anfang fehlt es durchaus an dem Grundmaterial exakter Begriffe, mit denen sich die Hauptlinien fixieren [lassen].
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Neben dem folgenden gestrichenen Text hat Husserl die Bemerkung mit Blaustift geschrieben: Diese Vorlesung mündlich verbessert gehalten, aber befriedigte mich nicht, so dass die nächste Vorlesung neu anhebt, vgl. 83 [= F IV 3/5a "83"]:
Wir haben in den letzten Stunden fundamentale Unterschiede innerhalb der Domäne der cog[itationes] besprochen, welche in den Eingang der Phänomenologie gehören, weil sie von einer so durchgreifenden Allgemeinheit sind, dass sie das ganze methodische Verfahren der Phänomenologie bestimmen. Wir besprachen den Unterschied zwischen phansischer (reeller) Analyse und Deskription und andererseits die Analyse und Deskription von Bewusstseinskorrelaten. Und wir unterschieden diesen Unterschied von einem anderen, nämlich dem zwischen Aktcharakteren und primären Inhalten, welche durch Aktcharaktere sozusagen Beseelung erfahren. Der letztere Unterschied liegt ganz innerhalb der Phansis. Eine reelle Analyse findet vor sowohl primäre Inhalte als [auch] Aktcharaktere, z.B. in der Einheit einer Wahrnehmung sowohl die Empfindungsinhalte als [auch] Auffassungen, Glaubensmodis usw. Auch der neue Unterschied bestimmt methodisch zwei Richtungen der Analyse.
Die Frage ist nun, was für allgemeinste Unterschiede sind hier anzureihen, und zwar immer Unterschiede von einer Art, welche für die phänomenologische Methodik bestimmend sind? Es liegt nahe von den universellsten aller Unterscheidungen, von den logischen auszugehen, also solchen, die für jedes Seinsgebiet, also auch für das phänomenologische bedeutsam sein müssen. Solche Unterschiede sind die zwischen Konkretum und Abstraktum (abstrakten Momenten) und zugleich die von Gattungen und Arten verschiedener Allgemeinheitsstufe, welche ihrerseits dann Gattungen voller Konkreta sein können oder auch Gattungen von abstrakten Momenten bzw. Bestimmungen. Eigentlich hätten wir mit diesen Unterschieden beginnen sollen und wenn wir anders anfingen, so geschah es, um von vornherein der Verwechslung von Phansischem und Ontischem, die schon für alle allgemeinsten logischen Unterschiede gefährlich ist, einen Riegel vorzuschieben. Ende der gestrichenen Stelle
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Methodologisch [1] leitet uns jetzt die Frage, ob die Phänomenologie mit einer Klassifikation der cogitationes zu beginnen und inwiefern sie eine solche anzustreben hat. [2] Kommt man von der Psychologie her, so liegt der Gedanke nahe, das Erste sei, hinsichtlich der Bewusstseinsphänomene konkret zu beschreiben und zu klassifizieren, auf dieser Unterlage abstrakte Wissenschaft zu treiben und dann durch Rückgang auf Elemente und Gesetze zu erklären. So fängt Brentano seine Psychologie mit einer Klassifikation der Bewusstseinserlebnisse an oder geht in wenigen Schritten auf eine solche los.
Sehen wir uns die Sachlage zunächst allgemein bei den Erfahrungswissenschaften an: In allen Erfahrungswissenschaften finden wir den Unterschied zwischen sogenannten konkreten und abstrakten, zwischen sogenannten beschreibenden und erklärenden Disziplinen, Bezeichnungen, die freilich unklar sind und oft falsch interpretiert werden. Die in einem Erfahrungsgebiet beobachteten Individuen ordnen sich, in ihrer empirisch-anschaulichen Konkretion genommen, unter Gattungen und Arten. Es sind empirische Gattungen, wesentlich inexakt. Es sind morphologische Allgemeinheiten und nicht exakte, reine Allgemeinheiten, so z.B. die Art Mensch, die Art Affe, Hund usw., die Gattung Säugetier. Ebenso ist auf psychologischem Gebiet jeder auf Persönlichkeiten, auf Charaktere, Dispositionen bezogene empirisch-allgemeine Begriff, auch die allgemeinen Begriffe, die sich z.B. auf konkrete Gestaltungen von Affekten beziehen, morphologisch und notwendig mit Vagheiten behaftet. Es ist charakteristisch für die zoologischen, botanischen und sonstigen Klassenbildungen und umfassenden Klassifikationen, dass dabei mit erfahrungsmäßig sich aufdrängenden (und im Fortgang der Erfahrung sich näher bestimmenden und begrenzenden) Typen operiert wird, in die zwar exakte bestimmende Begriffe, die zum Wesen der Naturobjekte gehören, eingehen können, aber niemals so, dass der Typus in einen festen Komplex solcher exakten Bestimmungen zu verwandeln wäre. „Mensch“ ist z.B. ein Typus und prinzipiell nicht etwas exakt Begrenzbares so wie geometrische Figur, wie Maß etc. Und ebenso in der Psychologie.
In der naturwissenschaftlichen Sphäre kann die Aufgabe gestellt sein, eine Morphologie der empirisch auftretenden komplexen Gestaltungen zu entwerfen, innerhalb irgendeines, durch einen obersten Typus, z.B. normal entwickeltes Tier, bestimmten Rahmen.
[1] Beginn einer neuen Vorlesungsstunde (Samstag, 20. Juli 1912).
[2] Randtitel von Edith Stein: Konkret beschreibende und exakt erklärende Naturwiss[enschaft] und Psychologie.
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Genau besehen ist von einer vollkommen abschließenden Klassifikation der Erfahrungsobjekte in keinem Erfahrungsgebiet die Rede, da die Zahl der idealen möglichen konkreten Gestaltungen endlos und die Zahl der erfahrungsmäßig gegebenen eine unabgeschlossene [ist] [1] Jeder Fortschritt der Erfahrung, jede genauere vergleichende Betrachtung von Gestaltungen, die unter einem Typus stehen, gibt die Möglichkeit für neue Typenbildungen.
Gestrichen: [2] Während die konkreten Erfahrungswissenschaften morphologisch sind und mit sinnlichen Begriffen operieren, sind die „abstrakten“ nomologisch. Sie gehen auf Bestimmung durch exakte Begriffe aus, durch die reale Gegenstände als solche notwendig bestimmbar sein müssen, und suchen auf Grund der Erfahrung exakte Naturgesetze, in denen nur solche exakte Begriffe und gar keine morphologischen auftreten, zu gewinnen. Diese Gesetze können dann zur Erklärung morphologischer Vorkommnisse dienen, ohne doch jemals eine empirische Morphologie überflüssig zu machen. Es wäre töricht zu glauben, dass die fortgeschrittenste nomologische Physik jemals die morphologischen Disziplinen, die wir als Mineralogie, Geologie, Meteorologie, Zoologie etc. bezeichnen, überflüssig machen könnten. Nur das gilt, dass die Verbindung systematischer Morphologie und systematischer Physik für unsere Erkenntnisinteressen sehr fruchtbar ist, sofern wir ebenso wohl interessiert sind an einer Morphologie der Natur als auch an exakter Bestimmung und Erklärung der individuell auftretenden Konkretionen und ebenso der allgemeinen morphologischen Gestaltungen von Konkretionen nach ihrer Entstehung und Umbildung. Das Interesse für die sinnlich-typischen Gestaltungen der Objekte eines Erfahrungsgebiets ist ein eigenes Interesse, ebenso wie das Interesse für die zum Wesen der Naturobjekte gehörigen exakten Bestimmungsstücke und für die exakten Naturgesetze, die in durchgreifender Allgemeinheit alles individuelle Sein, sofern es exakt bestimmbar ist, regeln. Und beide Interessen verbinden sich im Interesse der Einführung exakter Erklärung in die erfahrungsmäßig gegebenen typischen Gebilde. Ende der gestrichenen Stelle
[1] Randbemerkung: Verbessern!
[2] Randbemerkung zur gestrichenen Stelle: Mündlich: Das „Morphologische“ = das direkt aus der Anschauung durch „Abstraktion“ (eigentliche Abstraktion) niederer und höherer Stufe entnommene Allgemeine, und zwar Abstraktion von Gesamtmomenten (komplexen Momenten) und Abstraktion von Einzelzügen.
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Das gilt also auch für die Psychologie, in der zunächst prinzipiell geschieden bleiben muss Morphologie der in unserer psychologischen Erfahrung auftretenden konkreten Geistesgestaltungen mit all den morphologischen Regelungen, unter denen Bildung und Umbildungen dieser Gestaltungen stehen. Morphologie geht ja hier, wie in der Sphäre der physischen Naturseite, nicht nur auf eine Typik der relativ festen, dauernden Gestalten, sondern auch auf eine solche der Veränderungsformen, so der Entwicklung von Persönlichkeiten, von Charakteren, von Gedächtnistypen usw., von ihrer Bildung und Umbildung, genauso wie nach zoologischer Seite morphologisch der größte Teil dessen ist, was nicht nur Anatomie, sondern auch Physiologie uns darbieten.
Der Morphologie des Geistes und des Geisteslebens steht dann gegenüber das Analogon der nomologischen Physik, also die exakte nomologische Psychologie (die freilich bisher ganz und gar Postulat ist), die das Psychische durch die zu seinem ontologischen Wesen gehörigen exakten Bestimmungsstücke zu bestimmen sucht und auf sie bezügliche exakte Gesetze der psychischen Natur erforschen will.
Aus diesen Betrachtungen ersehen Sie die Irrigkeit eines allgemein beliebten Gedankens: Ein gewöhnlicher Gedanke ist der, dass Beschreibung Unterlage von Erklärung, also konkret beschreibende und klassifizierende Wissenschaft Unterlage für die abstrakten, die erklärenden Wissenschaften sei. Aber das ist verkehrt. Die abstrakten, die nomologischen Wissenschaften gründen sich gar nicht auf die konkreten, als welche sich in der Typik der erfahrenen Konkreta bewegen, während die abstrakten Disziplinen von den Typen gar nicht sprechen.
Der Physik und der nomologischen Psychologie als exakten Erfahrungswissenschaften entspricht eine rationale Physik bzw. rationale Psychologie als eidetische Wissenschaft. Die zum Wesen des physischen und psychischen Seins a priori gehörigen reinen und darum exakten Prädikate begründen reine Gesetze, welche Bedingungen der Möglichkeit empirischen Seins aussprechen: als Wesensgesetze der beiderseitigen Arten von Realitäten.
Wie steht es nun mit der Phänomenologie? Die Phänomenologie steht, wie wir früher sahen, in naher Beziehung zur rationalen Psychologie. Aber sie will nicht selbst rationale Psychologie sein, sie ist keine Wesenslehre der psychischen Realität, des Geistes und der die Idee des Geistes voraussetzenden Geistesgebilde und Geistesbeschaffenheiten. Sie will vielmehr eine Wesenslehre des reinen Bewusstseins sein, der reinen cogit[ationes] in phänomenologischer Reduktion, mit all dem, was in ihnen phansisch und durch Korrelatanalyse zu finden ist.
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Die [1] Realität, die wir Geist nennen, spielt in ihr keine andere Rolle wie die Realität, die wir Natur nennen, wie alle transzendenten Gegenständlichkeiten überhaupt. Das heißt, nur sofern Bewusstsein als Bewusstsein-von sich auch auf Geist und Natur bezieht und diese Beziehung etwas dem Wesen des Bewusstseins selbst Zugehöriges ist, sich an den betreffenden Bewusstseinsarten selbst studieren lässt, nur so weit erfahren sie in der Phänomenologie eine Untersuchung.
Es besteht hier ein eigentümliches Verhältnis zwischen eidetisch-rationaler Psychologie und eidetisch-rationaler Phänomenologie, ein sich in gewisser Art wechselseitiges Übergreifen. Die cog[itationes] , sofern sie auffassbar sind als Zustände, Akte, Erlebnisse erlebender Personen, gehören empirisch in die empirische und eidetisch in die eidetische Psychologie. Personen andererseits, mitsamt ihren Zuständen und Akten, sofern sie Korrelate von Bewusstsein sind, das eben Bewusstsein ist, das sich auf sie bezieht, gehören in die Domäne der Phänomenologie.
Beschränken wir uns nun auf die reduzierten Phänomene, so sind sie in sich selbst keine Realitäten, sie haben nichts von Realität an sich. In sich selbst haben sie ein Wesen. Die Begriffe, die wir von ihnen zunächst haben, herstammend aus gelegentlichen und ohne theoretische Absicht auf ihre Fixierung vollzogenen Reflexionen, werden ziemlich vage sein; und sofern es zunächst Begriffe sein werden, die ohne Analyse an den konkreten phänomenologischen Gegebenheiten gebildet sind, so werden sie den Charakter von Typenbegriffen haben, so z.B. Wahrnehmung, Erinnerung, aber auch Wahrnehmung eines Pferdes, eines Baumes etc. Ist nun etwa eine systematische Typik die Aufgabe? Gibt es eine konkrete morphologische Phänomenologie und daneben eine abstrakte? Indessen, von einer systematischen Typik aller Typen reduzierter Phänomene kann keine Rede sein, ich meine von einer Beschreibung und Klassifikation aller möglichen reinen Typen bis herab zu den niedersten Konkreta.
[1] Randtitel von Edith Stein: Phänomenologische Klassifikation.
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Wir können uns das so klarmachen. Lassen wir zunächst die Phänomenologie. Stehen wir auf dem Boden der Erfahrung und betrachten wir in einer Realitätssphäre die typischen Gestaltungen der uns in der Erfahrung entgegentretenden konkreten Realitäten, so begrenzt sich eben durch die Faktizität der Erfahrung die Unendlichkeit möglicher Typen auf die eben in der Erfahrungssphäre wirklich vorkommenden. Der Mensch z.B. ist in leiblicher Hinsicht ein allgemeiner und identifizierbarer Typus, zu dem eine typische Gestalt, ein Inbegriff typischer sinnlicher Merkmale gehört, ebenso in der Einzelbetrachtung seiner realen Teile und seines realen Werdens ein typischer Bau, eine typische biologische Entwicklung usw. Ebenso [für] jede Tierart. Wir können so Haupttypen unterscheiden, sie unter einen obersten Gattungsbegriff von typischer Art bringen und klassifizieren im Rahmen etwa der typischen Gattung Tier. Würden wir aber die Empirie fallen lassen und die idealen Möglichkeiten hier erforschen wollen in abschließender Vollständigkeit, so kämen wir auf grenzenlose Unendlichkeiten. Die menschliche Gestalt ist unendlich vielfach abzuwandeln in andere Gestalten, der menschliche Geist auch; und so können wir, von jedem erfahrungsmäßig gegebenen Typus ausgehend, unendlich viele Typen gebildet denken. Da ist von einer vollständigen Klassifikation keine Rede mehr, so vollständig, dass sie alle besonderen Typen in sich befasste.
Gestrichen: Und es ist da nicht abzusehen, wie sich eine systematische und reine Wissenschaft von den möglichen Typen überhaupt konstituieren sollte, obschon doch die Idee eines Typus etwas rein eidetisch Fassbares ist. [1] Ende der gestrichenen Stelle
In gewisser Weise umspannt nun zwar die reine Geometrie alle ideal möglichen Raumgestalten in exakt-begrifflicher Weise. Aber es ist klar, dass sie mit ihren exakten Begriffen keine typischen Unterschiede erfasst. Wer wollte auch die typische Blattform „lanzettförmig“ durch geometrische Begriffe exakt beschreiben? Oder die typische Leibesform eines Menschen? Gestrichen: So verhält es sich auch in der phänomenologischen Sphäre. Wenn wir rein eidetische Phänomenologie treiben, so können wir zwar Typenideen erfassen, aber eine systematische wissenschaftliche Klassifikation aller möglichen Typen ist, soweit ich sehe, nicht möglich. Dagegen bietet sich in der Phänomenologie als Möglichkeit das Analogon der Geometrie. Ende der gestrichenen Stelle
[1] Randbemerkung: Das ist zu weit gegangen
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Wie verhält es sich nun in der Phänomenologie? Eine reine Erfassung von Typen phänomenologisch-konkreter Gestaltungen ist, sagten wir, sehr wohl möglich. Nehmen wir z.B. die Wahrnehmungserscheinungen von einem und demselben Menschen, von einem und demselben Haus u. dgl., dann werden wir innerhalb der Kontinuität solcher zu demselben Objekt gehörigen Erscheinungen in sehr vielfacher Weise Einzelerscheinungen und Erscheinungsreihen finden können, die eine typische Ähnlichkeit haben. Gehen wir nun zu größerer Allgemeinheit über und nehmen wir den Typus des kaukasischen Menschen, des Negers, des Mongolen u. dgl., dann entspricht diesem empirischen Typus bzw. dem rein erfassten Rassentypus auch hinsichtlich der Erscheinungsmannigfaltigkeiten eine allgemeinere Typik. Ebenso, wenn wir von dem noch allgemeineren anschaulichen Typus eines Menschen überhaupt, eines Tieres überhaupt ausgehen usw. Und nun sehen wir, dass wie wir in der Mannigfaltigkeit reiner (apriorischer) Typen erfahrbarer Realitäten unerschöpfliche Unendlichkeiten haben, so auch und erst recht und in höherem Maße unerschöpfliche und durch kein Begriffssystem fixierbare Typen von Wahrnehmungserscheinungen. Wir sehen, dass an eine systematisch erschöpfende Klassifikation von Typen von Wahrnehmungserscheinungen nicht zu denken wäre, und erst recht nicht also an eine systematische Klassifikation aller Typen von möglichen cogit[ationes] überhaupt. Man kann auch darauf hinweisen, dass alle möglichen Typen von Natur- und Geistesgebilden, in reiner Idee betrachtet, auch auftreten als Korrelattypen für cogit[ationes] (die eben diese Typen als Korrelate haben) und dass die Grenzenlosigkeit in der Korrelatsphäre sich auf die der cog[itationes] selbst überträgt.
Was bleibt nun für die Phänomenologie übrig? Die Antwort lautet natürlich: Wenn [wir] z.B. hinsichtlich der Wahrnehmungserscheinungen nicht nur nicht ihre Individualtypen als diese bestimmten Konkreta bestimmen können, sondern auch nicht alle möglichen allgemeinen Typen, die wir doch gegebenenfalls erschauen und unterscheiden können,
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so gewinnen wir doch leicht eine Höhe der Allgemeinheit, die [eine] Fassung in exakte und ihrem Inhalt nach immer wieder identifizierbare Begriffe zulässt, so z.B. hinsichtlich des Typus Dingwahrnehmung, „äußere“ Wahrnehmung, ebenso Dinganschauung überhaupt, die nicht gerade Wahrnehmung sein muss, sondern auch Retention, Wiedererinnerung, antizipierende, erwartende Anschauung, auch bloße Phantasie sein kann. Das phänomenologische Interesse geht nicht, und kann nicht gehen, auf die begriffliche Fixierung aller möglichen typischen Besonderungen, die unter diesen festen Allgemeinheiten liegen. Sie, [die Phänomenologie], kann die typischen Besonderheiten bis herab zu den undifferenzierbaren Konkretionen auch nicht so beherrschen, wie etwa die Geometrie durch ihre Axiomatik und ihre Grundbegriffe alle möglichen reinen Raumgestalten beherrscht. Es ist ein wesentlicher Unterschied der phänomenologischen Wesensfeststellungen gegenüber den geometrischen, wenn wir darauf achten, dass die geometrischen Artbildungen nicht Typendifferenzierungen sind. Der Typus ist eine anschauliche Einheit, z.B. der Typus des Eiförmigen, der Typus des Gezackten, der Schlangenlinie etc. Aber obschon Figur überhaupt als allgemeiner Typus verstanden werden kann, der alle solche Typen in sich fasst, so gibt doch die Geometrie nicht eine Systematik dieser sinnlichen und ins Ideale gewendeten Typen und keine Gesetze für solche Typen, sondern sie hat eine eigene Art der Begriffsbildung und hat eigene Gattungen von Ideen: Die geometrische Reinheit schließt das Typische der sinnlich anschaulichen Gegebenheiten aus. Die Typen, wie z.B. der Typus der Eiform, sind keine geometrischen Gebilde.
Wenn wir die Geometrie als eine Wesenslehre heranziehen zur Illustration der wissenschaftlichen Art der Phänomenologie, so hat das also zwar [sein] Recht, sofern auch die Phänomenologie Wesenslehre ist. Wir dürfen [aber] nicht phänomenologische und geometrische Begriffs- und Urteilsbildung ganz auf eine Stufe stellen. Der geometrische Punkt, die geometrische Gerade, das geometrische Gebilde
[1] Gestrichene Randbemerkung: Und dann haben wir ein Allgemeines, das genau besehen eigentlich nicht mehr als ein typisches Allgemeines gelten kann, das typische Gestaltungen in seinem Umfang hat. Ende der gestrichenen Stelle
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sind, wie man zu sagen pflegt, Ideale (oder Ideen im kantischen Sinn), sie sind reine Punkte, Geraden etc., etwa so, wie ein „reines“ Rot rein ist, und eine kantische Idee. Die Gattungsidee Wahrnehmung aber und näher Dingwahrnehmung ist in diesem Sinn keine Idee, in diesem Sinn nicht „rein“. Sie ist ein streng begrenzter, in absoluter Identität fassbarer Allgemeinbegriff, aber nicht ein solcher im Sinn einer idealen Grenze. Unter sich hat dieser Begriff alle möglichen konkreten einzelnen Wahrnehmungen. Und sofern es zum Wesen solcher Konkretionen gehört, in Typenbegriffen fassbar zu sein, in phansischer und Korrelat-Hinsicht, insofern ist die Idee Wahrnehmung ein Rahmen für unendlich viele mögliche Wahrnehmungstypen. Aber nicht diesen gilt die eidetische Forschung, sondern dem, was die Idee Wahrnehmung überhaupt generell vorschreibt, was in dieser streng begrenzten Idee an Partialideen steckt als Komponenten eben der Gattung von Konkretionen, was in ihr an Korrelatideen steckt ebenso wie an phansischen Ideen. Der Begriff der Wahrnehmung ist dabei insofern nicht ein Allgemeinbegriff von Typen, als er eben in seinem Umfang sich nicht auf Typen beziehen will, sondern eben auf Wahrnehmungen, das sind mögliche einzelne Konkretionen der Idee Wahrnehmung überhaupt. Andererseits geht die Geometrie nicht auf Konkretionen und Momente in Konkretionen.
Wir bewegen uns in der Phänomenologie also in einem eigenen Gebiet allgemeiner Ideen. Es sind die Artungen des Bewusstseins, die Artungen der allgemeinsten Gattungsidee cogitatio. Und wenn nun versuchsweise das Ziel der Klassifikation gestellt wird, so betrifft das jedenfalls nicht die unfassbare, und das sagt: in Begriffen nicht fassbare Unzahl von Typen von Phänomenen, sondern die systematische Unterscheidung der bestimmten und streng begrifflich fassbaren Artungen von cog[itationes] , der niedersten Artungen, die streng fassbar sind; und diese lassen sich sehr wohl unter wesentliche, ihnen zugehörige Gattungen ordnen und eventuell klassifizieren. Freilich erfordert es sehr schwierige vergleichende Betrachtungen und Analysen,
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ehe man die wesentlichen Gesichtspunkte solcher Klassifikation herausfinden kann. Die Artungen, die sich zunächst darbieten, sind eben Artungen von Konkretionen; und in die Arterfassung gehen mannigfache Begriffe von verschiedenen Komponenten oder Seiten der Konkretionen als wesentliche Bestimmungsstücke ein, aber in ungeschiedener Verflossenheit ein. Was da für die Klassifikationen der cog[itationes] bestimmend sein soll und in welchem Rahmen (ob am Ende im weitesten der cog[itatio] überhaupt) sie sich bewegen können, das ist von vornherein keineswegs klar. Jedenfalls ist das sicher, dass hier auf dem theoretisch noch unerforschten Feld nicht anders vorgegangen werden kann, als dass man in der sich nicht schwer darbietenden Ebene streng fassbarer allgemeiner Ideen von cogit[ationes], und zwar solcher von niederster Allgemeinheit, möglichst einfache herausgreift und einer Wesensanalyse unterwirft, dass man, vielfältig so verfahrend und auch auf die Komplexionen hinüberblickend, in vergleichender Betrachtung die durchgehenden Charaktere heraushebt und andererseits die differenzierenden. Und so schrittweise fortgehend, teilt sich allmählich das ganze Untersuchungsfeld; es treten feste Demarkationen hervor, es sondern sich analytisch durchforschte von noch unklaren Gebieten und Schichten, und man nähert sich so dem Ziel einer analytischen Erkenntnis der Phänomene. Erst dann ergeben sich diejenigen Demarkationen, innerhalb derer Klassifikation allein festen Sinn haben kann.
Keinesfalls kann man so einfach verfahren wie Brentano in seiner Klassifikation der sogenannten psychischen Phänomene. Obschon diese Klassifikation als psychologische Klassifikation gemeint war, so würde sie, da Brentano sich im Feld der in immanenter Anschauung fassbaren Phänomene bewegen will, wenn sie überhaupt zureichend wäre, den Charakter einer Klassifikation der phänomenologischen Bewusstseinsarten haben müssen. Ich meine aber, dass Brentano die Schwierigkeiten unterschätzt hat und dass es zunächst gar nicht leicht [1] zu sagen ist, was da eigentlich Klassifiziertes ist.
[1] nicht leicht im Ms. gestrichen
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Wir [1] haben in der letzten Vorlesung die Frage vor Augen gehabt, in welchem Sinn die Phänomenologie auf eine Klassifikation auszugehen hat. Klassifikation und Deskription hängen nahe zusammen, und so ist die Frage auch die, welche Art Deskription die Phänomenologie vollziehe bzw. welcher Art die Begriffe sind, die hierbei dienen. [2]
Wir ließen uns in unseren Meditationen leiten von dem Unterschied sogenannter konkreter und abstrakter Wissenschaft, der zunächst in der Sphäre der Erfahrungswissenschaften, der Wissenschaften von der faktischen physischen und psychischen Natur, erwogen wurde. Es ist, sagten wir, besser gefasst, der Unterschied zwischen morphologischer und nomologisch-exakter Wissenschaft. Die erstere beschreibt die in empirischer Anschauung, in der schlichten, beobachtenden Wahrnehmung gegebenen Naturgestaltungen mittels Begriffen, die sich direkt und in eigentlicher „Abstraktion“ nach den Wahrnehmungsgegebenheiten orientieren. Es sind Begriffe, die wir auch Typenbegriffe nannten und die sich von den „exakten“ Begriffen offenbar sondern, Begriffen, die ihrerseits, ohne jede Verbindung mit Typenbegriffen, die bestimmende Rolle in den Lehrsätzen der nomologisch-„exakten“ Wissenschaften spielen. Die Begriffe, mit denen die biologischen Wissenschaften, die Soziologie u. dgl. auch da [operieren] , wo sie allgemeine Sätze, sogenannte Entwicklungsgesetze, ökonomische Gesetze u. dgl. aussprechen, haben einen ganz anderen Charakter als die Begriffe der exakten Physik. Es handelt sich hier um einen ganz fundamentalen wissenschaftstheoretischen Unterschied. Wenn der Biologe eine Spezies beschreibt und durch seine Beschreibung den morphologischen Begriff der Spezies fixiert, so verwendet er Begriffe wie Färbung, wie Gestalt, Größe u. dgl., Geruch, Glätte etc.,
[1] Beginn einer neuen Vorlesungsstunde (Mittwoch, 24. Juli 1912).
[2] Randtitel von Edith Stein: Typus und Idee.
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und all die Bestimmungen, die er da gibt, haben notwendig etwas Fließendes, Ungefähres. Sie haben keinen absolut scharf zu begrenzenden Umfang. Wir stellen etwa gegenüber den Begriff der Färbung mit allen ihm untergeordneten näheren Bestimmungen: rot, blau usw., noch näher: krapprot, veilchenblau usw., und geometrische Begriffe wie Gerade, Kreis, Dreieck usw. Oder noch besser: Wir stellen gegenüber die morphologischen, der unmittelbaren Anschauung entnommenen Begriffe von Raumgestalten, von Punkt, Linie, Oberfläche, Körper, von gerade und krumm, von kreisförmig, eiförmig, klappenförmig usw., und andererseits die eventuell gleich bezeichneten geometrischen Begriffe und Größenbegriffe überhaupt.
Humes skeptische Einwände gegen die Geometrie im Treatise beruhen wesentlich darauf, dass er die sinnlichen Begriffe und die geometrischen Idealbegriffe nicht unterscheiden will, dass er von dem Vorurteil ausgeht, dass die Geometrie nur die Wissenschaft der sinnlich erscheinenden Raumgestalten sei bzw. nur das sein könne (dass ihm Punkt das ist, woran wir keine Länge, Breite und Tiefe mehr unterscheiden, Linie das, woran wir keine Breite und Dicke unterscheiden bzw. als zu geringfügig nicht in Betracht ziehen etc.). Die rein geometrischen Begriffe gelten ihm [als] Fiktionen; und so sagt er sich, eine Wissenschaft kann doch nicht Wissenschaft von Fiktionen sein, es kann nur so sein, dass wir der Bequemlichkeit halber, der Abkürzung der Rede willen, den wahren geometrischen Begriffen Fiktionen zugrunde legen usw.
Wir werden uns von den Vorurteilen des humeschen Sensualismus nicht irreleiten lassen. Es ist evident, dass die Geometrie nicht von einem minimum sensibile spricht, wenn sie Punkt sagt, dass sie überhaupt nicht über sensibilia redet, sondern eben von ihren „reinen“ Punkten, „reinen“ Geraden, reinen Flächen und Körpern, und dass diese Reinheit durchaus dem kantischen Begriff von Idee als einer idealen und evident zu erfassenden Grenze entspricht.
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Man muss sich das völlig klarmachen: Die Begriffe, die man in der sinnlichen Abstraktion als Typenbegriffe bildet, all die beschreibenden Begriffe im Alltagsleben, wie kurz und lang, dick und dünn, rund und eckig, zackig, all die Gestaltbegriffe, die in der Naturgeschichte in Anlehnung an bekannte konkrete Gegenständlichkeiten allgemeiner verwendet werden, wie fächerförmig, bandförmig, lappen-, kelch-, lanzettförmig, gefedert, strauchförmig usw., sind, so unentbehrlich sie in der Morphologie sind, durchaus ungeometrische. Der Begriff der geometrischen Gestalt ist kein Allgemeinbegriff, der diese morphologischen Allgemeinheiten umspannt, und wenn die Geometrie in ihrem System von Axiomen alle möglichen Raumgestalten a priori zu konstruieren und wissenschaftlich zu bestimmen vermag, so betrifft das eben die geometrischen Gestalten. Eine Morphologie der in sinnlicher Anschauung fassbaren sinnlichen Gestalten ist etwas der Geometrie völlig Fremdes, und allgemeine Sätze für sinnliche Gestalten sind nicht etwa geometrische Sätze, und ebenso umgekehrt. Man darf sich nicht durch viele gleichlautende Worte wie Punkt, Gerade, Kreis, Ebene etc. leiten lassen. Es handelt sich freilich nicht um zufällige Äquivokationen, sondern um solche, die eine Wesensbeziehung andeuten. Punkt und Gerade im morphologischen Sinn haben schon etwas zu tun mit geometrischem Punkt, geometrischer Gerade. Aber die Art der Begriffsbildung ist eine wesentlich andersartige.
Das ist schon Descartes zu Bewusstsein gekommen, wie aus seiner Unterscheidung zwischen imaginatio und intellectio hervorgeht. Die sinnliche Abstraktion, oder, wie wir das cartesianische Wort gebrauchend auch sagen können, die imaginative, ist eine andere als die intellektive. Beiderseits kommen uns eventuell die begrifflichen Wesen zur Gegebenheit, beiderseits erfassen wir die „Idee“ des Geraden, des Punktes usw., aber das Erfasste ist ein wesentlich Verschiedenes, obschon doch wieder in Wesensbeziehung Stehendes. Auch vom Typischen gibt es „Ideen“, Ideen, die uns in klarer Ideation zur Gegebenheit kommen. Jedem klaren Begriff entspricht eine gegebene Idee, und an Klarheit fehlt es
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in der typischen Sphäre durchaus nicht; wir haben sie, wenn wir die Wortbedeutung an der Wahrnehmungsgegebenheit orientieren oder an einer klaren Phantasiegegebenheit. Die Faktizität des Daseins wird dabei, wie bei aller Ideen- oder Wesenserfassung, außer Betracht gelassen. Andererseits, in der intellektiven Ideation haben wir zwar auch Klarheit, aber die Art der Erfassung und [das], was wir erfassen, ist hier ein anderes. Es ist eine Idee im kantischen Sinn: [Wir erfassen] das reine Gerade, den reinen Kreis, die reine Ebene u. dgl.; [es sind] Ideen, die den Charakter von „Idealen“ haben, von hineingedachten und dabei doch in gewissem unsinnlichen Sinn intuitiv zu erfassenden Grenzen, zu denen für die klare Erfassung Steigerungsreihen gehören. Wir legen uns sinnliche Gestalten nebeneinander, „die immer vollkommener der Idee der Geradheit entsprechen“. Im Übergangsbewusstsein der Steigerung erfassen wir intuitiv eine ideale Grenze, die aber kein sinnliches Moment ist.
Es besteht überhaupt, wie ich schon andeutete und wie hier besonders hervortritt, eine gewisse Beziehung zwischen imaginativer und intellektiver Idee. Jede imaginative Idee, jeder Typus, kann bezogen gedacht werden auf ideale Grenzen bzw. auf Mannigfaltigkeiten von Grenzen, von idealen Kontinuen, in welchen ausgezeichnete ideale Punkte als Limespunkte, als ideale Annäherungspunkte charakterisiert sind. So, wenn wir den mathematischen Punkt [und] die mathematische Gerade als ideale Grenzen erfassen, denen sich alles, was im typischen Sinn „Punkt“ und „Gerade“ heißt, mehr oder minder annähert. Ebenso, wenn wir von einem reinen Rot sprechen, dem sich alles imaginative Rot und alle Typenbegriffe von Rot annähern. Auch wenn wir Artbegriffe von Rot bilden, wie Krapprot, Karminrot etc., entspricht jedem solchen Typus an sich ein Ideal-Reines, ein Grenzpunkt innerhalb einer kontinuierlichen Sphäre von Rotnuancen. Und schließlich sieht man, dass das Hineinschauen von idealen Grenzen in den Fluss der imaginativen Gestaltungen es mit sich bringt, dass dem Fluss substruiert wird ein sozusagen mathematisches Kontinuum: in der Farbensphäre das Kontinuum der sozusagen mathematisch reinen Farbenspezies, in der Sphäre der Raumgestaltungen das Kontinuum
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des mathematischen Raums, in der Sphäre der imaginativen Zeitgestalten das Kontinuum der reinen mathematischen Zeit usw. [1]
Überall, wo es möglich ist, in das imaginativ Fließende Ideales so hineinzudenken, und in einsichtiger Art, dass das Ideale den formalen Typus einer mathematischen Mannigfaltigkeit im Sinn der formalen Mannigfaltigkeitslehre annimmt, da lässt sich eine Mathematik etablieren. Es erwächst so z.B. auf dem Boden der imaginativen Raumanschauung die geometrische Raumintuition, die den geometrischen Raum als dreidimensionale euklidische Mannigfaltigkeit mathematisiert. Ebenso erwächst auf dem Untergrund der imaginativen Zeitanschauung die mathematisierende Zeitanschauung, in welcher die Zeit als ideale orthoide Mannigfaltigkeit dasteht usw. Eine gewisse Möglichkeit, Ideales in das Imaginative hineinzudenken, besteht überall, wo immer wir dem Fluss der imaginativen Gestaltungen nachgehen. Aber nicht immer sind die Bedingungen der Mathematisierbarkeit erfüllt. Wenn wir z.B. im Fluss des Psychischen Unterschiede der Klarheit und Unklarheit machen, so ist uns dieser Fluss evident gegeben; aber wenn wir hier rein graduelle Unterschiede hineindenken, so fehlt es doch an der Möglichkeit, hier in rechtem Sinn zu mathematisieren, da eben auch das Unklare bleibt, ob die graduellen Unterschiede einfältige oder mehrfältige sind, einfacher [Mannigfaltigkeit] oder mehrfachen Mannigfaltigkeiten angehören u. dgl.
Überhaupt ist die Funktion des Mathematisch-Exakten in verschiedenen Gebieten eine sehr verschiedene, und nicht überall kann die Aufgabe der Konstitution von Mathematik und von mathematisch bestimmter nomologischer Wissenschaft gestellt werden. Die Möglichkeit, in die in irgendeinem Gebiet erfassbaren Typen reine Gestalten hineinzudenken, sagt noch nicht, dass es in dem Gebiet überhaupt oder in nennenswertem Maß Mathematik geben muss und, wenn es ein empirisches Gebiet ist, dass so etwas wie mathematische Naturwissenschaft in ihm konstituierbar sein muss.
[1] Randtitel Edith Stein: Mathematisierbarkeit der Natur.
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In der Sphäre der physischen Natur geht das durchaus. Sie ist in der Tat mathematisierbar, und gegenüber den morphologisch beschreibenden Naturwissenschaften gibt es exakte, d.i. mathematische Naturwissenschaft. Es gibt eine die ganze Natur umspannende „mathematische“ Physik, welche ausschließlich mit „exakten“ Begriffen, d.i. Idealbegriffen der intellectio operiert. Genauer gesprochen, es gehört zur Idee der imaginativ gegebenen Natur, dass ihr a priori eine ideale Natur, eine in exakten Begriffen gedachte substruierbar ist, die als eine geschlossene „mathematische Mannigfaltigkeit“ charakterisiert ist. Eine solche Mannigfaltigkeit ist definit, sie hat ein geschlossenes System von Obersätzen, aus denen rein deduktiv jede mögliche reine Naturgestaltung ableitbar ist, so dass es keine freien Möglichkeiten hier gibt. Zur formalen Idee der Natur als Natur überhaupt gehört es, dass sie umschreibbar ist durch eine Ontologie der Natur, mit Geometrie, Phoronomie usw. Und zu ihr gehört ein Komplex von apriorischen Sätzen über materielle Realität, Sätzen über Substanzialität und Kausalität, die in Verbindung mit den Disziplinen der Formen Raum, Zeit [und] Bewegung es einsichtig machen, dass jede faktische Natur im angegebenen Sinn definit mathematisierbar sein müsse. Auf Grund der Ontologie der Natur wird dann die empirisch-exakte Physik entworfen. Durch die Ontologie erkennen wir, dass eine gewisse, ihrem bestimmten Gehalt nach noch unbekannte mathematische Natur der in der aktuellen Erfahrung (in der „imaginatio“) gegebenen Natur zugrunde liegen muss. Die Methodik der mathematischen Naturforschung geht (als Physik) nun dahin, die bestimmte mathematisch-exakte Naturgesetzlichkeit herauszuarbeiten und das System von bestimmten mathematischen Naturgesetzen als Grundgesetzen zu finden, aus welchen alle empirisch möglichen (in der Faktizität dieser gegebenen Natur möglichen) exakten Naturgestaltungen sich deduzieren lassen.
M III 6/5a "86"
Transcription
Die Möglichkeit aber der Herausarbeitung einer Physik aus der gegebenen und zunächst nur in morphologischen Begriffen beschreibbaren Natur und in weiterer Folge die Möglichkeit, in Bezug auf alle konkret gegebenen Naturgestaltungen und alle morphologisch aufweisbaren Regelmäßigkeiten des Naturgeschehens das Ziel exakt-wissenschaftlicher Erklärung zu stellen, beruht nicht bloß überhaupt darauf, dass sich die aus der imaginatio zu schöpfenden morphologischen Begriffe beziehen lassen auf exakte Begriffe oder dass wir in das Morphologische hineindenken können „Reines“. Vielmehr ist die Sachlage die, dass das morphologisch Gegebene hier notwendig zu fassen ist als ein an sich Exaktes, an sich durch exakte Begriffe Bestimmbares, und dass das an sich Exakte methodisch in einer gewissen Annäherung (und nur als Annäherung) durch Reihen exakter Ansätze bestimmbar ist und immer vollkommener bestimmbar ist durch Verfeinerung der Methode. Jede methodische Vervollkommnung liefert gegenüber der ersten Reihe von Annäherungen eine interpolierte Reihe mit stärkeren Annäherungen. Und es gehört eben zum Wesen der Natur, dass sie zunächst „erscheinende“ Natur ist einer rein exakten „Natur an sich“, welche bestimmbar ist als eine ideale Grenze, der wir uns in Reihen von Annäherungswerten eben in infinitum annähern können.
Die Aufgaben der Konstitution einer Physik und diejenigen der durch Physik zu leistenden Erklärung bzw. exakten Bestimmung des in konkreter Erfahrung Gegebenen heben natürlich nicht die Aufgabe einer morphologischen Naturbetrachtung auf und entwerten sie nicht. Die Morphologie der Natur hat ihren Wert schon in sich, sie hat auch ihre eigenen Begriffsbildungen und ihre eigenen Ideen.
Wir [1] haben bisher von der physischen Natur gesprochen, zu der Mathematisierbarkeit durchaus gehört.
[1] Wohl Beginn einer neuen Vorlesungsstunde (Samstag, 27. Juli 1912).
F IV 3/9a "87"
Transcription
In der Sphäre der psychologischen Realitäten verhält es sich grundwesentlich anders als in der der physischen Realitäten. Zum Wesen des Geistes, der geistigen Zustände und Beschaffenheiten gehört nicht mathematische Bestimmbarkeit; der geistigen Wirklichkeit ist nicht eine definite mathematische Mannigfaltigkeit als ideales Gerüst unterzulegen. [1] Psychische Akte und Zustände, wie Phantasien, Erinnerungen, Urteile, Wünsche, Hoffnungen, Wollungen, sind nicht messbar, nicht „exakt“ bestimmbar als Annäherungen an ideale mathematische Gebilde. Es gibt da zwar auch so etwas wie Kontinuität, und in vielen Richtungen, aber die psychischen Phänomene sind nicht auflösbar in Komponenten, deren jede sich idealiter einordnen ließe in eine mathematische Mannigfaltigkeit. Und ihre Komplexion birgt in sich keine mathematisierbare Substanz im Sinn der Materie. Und erst recht gilt das in weiterer Folge von den psychischen Dispositionen und den mit ihnen zusammenhängenden realen Eigenschaften von Personen. Reduzieren wir phänomenologisch auf das reine Bewusstsein, so gilt natürlich eben dasselbe für die Mannigfaltigkeit der cogit[ationes] . Sie ist in keiner mathematischen Mannigfaltigkeit. Zwar können wir z.B. in den Abfluss einer Wahrnehmungserscheinung exakte Ideen hineindenken, wie wir es ja schon tun, wenn wir von den Zeitphasen der Wahrnehmungserscheinung sprechen, wenn wir uns das Phänomen als eine Dauer, mit einem ideal bestimmten, von Zeitpunkt zu Zeitpunkt neuen Inhalt denken; ebenso wenn wir davon sprechen, dass ein Phänomen von der Klarheit in die Dunkelheit abklinge, und uns da Phasen dieser Kontinuität des Abklingens hineindenken. Aber hier fehlt es prinzipiell an Möglichkeiten, das jeweils Gegebene durch exakte Begriffe in fester Methode angenähert zu bestimmen. Und vor allem: Die graduellen Abstufungen sind Abstufungen eines reichen qualitativen Gehalts, und eines qualitativen Gehalts von vielfältigen Gattungen und Arten, die man nicht durch Beziehung auf Kontinua und exakte Begriffe irgend mathematisch fassen, einer mathematischen Ordnung eingliedern könnte.
[1] Randtitel von Edith Stein: Unmöglichkeit einer Mathematisierung des Bewusstseins.
F IV 3/9b "87"
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Gestrichen: Die allgemeine Beschaffenheit der gegebenen Natur, sofern sie ausschließlich unter exakten Begriffen gedacht wird, erforscht die exakte Naturwissenschaft, sie konstruiert unter Anleitung der reinen Naturwissenschaft und andererseits der Gegebenheiten der Erfahrung ein Gesetzessystem, das das ideale Gerüst der Natur, wie sie „wirklich“ ist, darstellt. Und mittels der exakten Erfahrungswissenschaft von Natur vollzieht sich alle exakte Naturerklärung, d.i., sie ist das Mittel, alle konkreten und morphologisch allgemeinen Gestaltungen, die im Rahmen der empirischen Anschauung zur Beschreibung kommen, exakter Bestimmung zu unterwerfen. Andererseits hebt die Aufgabe der Bestimmung nicht die Aufgabe der morphologischen Naturbetrachtung auf und entwertet diese nicht: Sie hat ja ihren eigenen Wert, wie sie ihre eigene Begriffsbildung hat und ihre eigenen Ideen. Möge diese auch eine Rückbeziehung (wenigstens in der Sphäre der physischen Natur) auf exakte Ideen gestatten, so erfordert natürlich der Sinn dieser Rückbeziehung, dass morphologische Gegebenheiten und Begriffe schon vorliegen und als Unterlagen auch bei exakter Bestimmung eben unterliegen.
Sehen wir uns nun die morphologischen Begriffe und Ideen an, so haben sie ihre verschiedenen Stufen der Allgemeinheit, und die vage Umgrenzung gehört mit zu ihrem Inhalt. Das hindert aber nicht, dass wir zu obersten Begriffen kommen, zu obersten imaginativen Allgemeinheiten, die zwar unter sich lauter Begriffe von einer gewissen vagen Umgrenzung haben, mit ihnen verbunden durch Übergangsbegriffe, die aber nicht selbst mehr vage in diesem Sinn sind. So sind alle imaginativen Begriffe von besonderen Raumgestalten, wie krumm und gerade, oder ebenso alle imaginativen Begriffe von besonderen Tönen und Tongestalten fließend ineinander übergehende Typen, zwischen die Übergangstypen eingeordnet werden können; aber die Begriffe Raumgestaltung, akustische Gestaltung (Gehörsphänomen), Geruchsvorkommnis usw. sind scharf voneinander gesondert. Innerhalb jeder solchen obersten Gattung ist doch wohl eine allgemeine Morphologie der imaginativ fixierbaren eidetischen Bildungen möglich. Nur das dürfte unmöglich sein: eine Morphologie so weit zu treiben, dass sie alle eidetisch möglichen besonderen und extendierten/besonderten[??] Gestaltungen in vollständiger Klassifikation aufzählt. Ende der gestrichenen Stelle
F IV 3/10a "88"
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Es ist ja die Sachlage hier eine ganz andere als in der Naturwissenschaft; die unmittelbar erfahrene Natur mit ihren unmittelbar erfahrenen Eigenschaften ist nur eine unvollkommen gegebene, immer nur erscheinende Natur, die immerfort vor sich hat die allererst herauszuarbeitende, immer wieder durch Darstellungen hindurch in verschiedenen Stufen zu erkennende Natur. Im Fortschreiten von Erfahrung zu Erfahrung, von stufenweise aufeinander gebauten Erscheinungen, leiten uns für die Herausarbeitung der wahren, mathematisch fassbaren Natur mathematische Idealbegriffe, die zu den dem Erscheinungsgehalt selbst zu entnehmenden reinen Begriffen in Beziehung stehen, aber nicht sie selbst sind. Wir sehen die Dinge gefärbt, aber die Begriffe von Farben, auch die Idealbegriffe von reinen Farben, die wir zunächst gewinnen können, sind noch nicht die Begriffe von Farben, mittels deren das Wahrgenommene exakte Bestimmung erfahren könnte. Die Begriffsbildungen der mathematischen Optik, die dergleichen leisten, wurzeln im Erfahren mit seinen Erfahrungsfarben, sind diesen aber nicht selbst immanent, nicht aus ihnen durch direkte Ideenbildung zu entnehmende Idealbegriffe.
Was andererseits die Bewusstseinsphänomene anlangt, die wir zu Objekten machen wollen, wie sie an sich sind, so sind sie natürlich nicht, wie die Natur, etwas sich durch ein Anderes Darstellendes und aus Anderem, aus Phänomenen Herauszuarbeitendes. Die Begriffe, die wir zu ihrer Bestimmung verwenden, können nur aus ihnen selbst entnommen, in Hinsicht auf ihre Gegebenheit und adäquate Gegebenheit abstrahiert werden. Finden wir hier Fließendes, so müssen wir eben die Idee des Flusses bilden; finden wir Vages, die Idee der Vagheit; können wir in gewissen Sphären nur typische Unterschiede finden, so müssen wir Typenbegriffe bilden. Wir versinken darum keineswegs in einen Fluss. Wir haben kaum übersehbare Vielheiten streng fassbarer Unterschiede.
F IV 3/10b "88"
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Auch wo niedere Konkretionen nur fließend-typisch unterscheidbar sind, finden wir doch überall in höherer Allgemeinheit feste, obschon nicht mathematische Unterschiede, Begriffe, die nicht durch fließende Übergänge zu vermitteln sind. So ist Wahrnehmung überhaupt, und spezieller auch Wahrnehmung von Physischem, etwas absolut Festes und in seiner Allgemeinheit zu Beschreibendes. Wahrnehmung und Aussagen oder Wahrnehmen und Wollen, Wollen und Sich-Freuen u. dgl., das sind phänomenologische Klassenunterschiede, die so fest und absolut gesondert sind wie die imaginativen Unterschiede von Farbe und Ton in der Sphäre der äußeren Erfahrung.
Eben das macht in jeder Sphäre imaginativer Ideen, auch in der der äußeren Erfahrung, wertvolle allgemeine Unterscheidungen, Klassifikationen, Deskriptionen möglich und gibt dem Ziel einer systematischen Eidetik einen Sinn in diesen Sphären, da wir eigentlich nur im Fluss stehen bei den niederen Konkretionen und konkreten Allgemeinheiten, nicht aber, wenn wir in die höheren Allgemeinheiten eintreten. Eine Klassifikation und Beschreibung aller erdenklichen imaginativen Typen kann im Gebiet der äußeren Erfahrung, wie wir schon letzthin sagten, nicht zum Ziel gestellt werden. Wenigstens sehe ich nicht, dass man darangehen könnte, schon für das Gebiet der sinnlichen Raumgestalten alle möglichen Typen von Gestalten zu fixieren. Sie haben immer selbst und notwendig etwas Fließendes, sind durch Übergangsgestalten vermittelt, die man selbst wieder typisch fassen kann; ebenso wenn wir alle Tongestaltungen, die doch fließend ineinander übergehen, fassen wollten usw. Andererseits haben wir Begriffe, die durch Abgründe getrennt sind, wenn wir zu entsprechender Allgemeinheit übergehen, wie z.B. Räumliches überhaupt, Akustisches, Optisches, Taktiles überhaupt u. dgl. Ferner wird man wohl in jedem Gebiete typische Haupt- und Normalunterschiede fixieren können und so in einer gewissen Höhe der Allgemeinheit bleibende wertvolle Deskription leisten können. Gestrichen: Da die Idee einer universellen apriorischen Typik der erscheinenden Raumgestaltungen und so des Erscheinenden der äußeren imaginatio bisher nicht erwogen ist und ich selbst nur einzelne Linien verfolgt [habe] im Zusammenhang der Konstitution der Gegebenheiten äußerer imaginatio, aber nicht die allgemeine Idee näher durchgeführt habe, kann ich Ihnen weiter hier nichts sagen. Ende der gestrichenen Stelle Erst recht ist es aber so in der Sphäre des Psychischen, und ganz besonders, wenn wir phänomenologische Reduktion üben in der Sphäre der Bewusstseinsgestaltungen.
F IV 3/7a "89"
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Wir werden hier fixieren können und rein fixieren müssen die durch scharfe Demarkationen unterschiedenen Klassenideen von konkreten cogit[ationes]; und es gilt dann die Wesensanalysen zu vollziehen, welche die zu diesen Klassenideen gehörigen Ideen von reellen Komponenten und von Korrelaten fixieren. Es stellt sich dann heraus hinsichtlich der reellen Komponenten, dass das abstrakte Material sozusagen, das Material an unselbständigen Komponenten und formalen Charakterzügen, aus dem alle cogit[ationes] gebaut sind, auf gewisse wesentliche Grundgattungen zurückgeht, innerhalb deren man dann auf Klassifikation in Arten wird ausgehen müssen. Darin ist schon beschlossen, dass man auch auf die Grundartungen der Komplex-Formen wird hinblicken und sie durch feste Begriffe [wird] fixieren müssen. Diese durchgehende Elementaranalyse, die Herausstellung der in sehr verschiedenen Dimensionen liegenden Elemente, Charaktere, Formen, der reellen und der zum Korrelat hingehörigen, ist eine ungeheure und außerordentlich schwierige Aufgabe. Da alles sich in der Einstellung der Ideation hält, so impliziert jede Feststellung eigentlich ein Wesensgesetz für mögliche singuläre Einzelheiten. Diese Elementaranalyse (die von Ideen von Konkretionen ausgeht wie Wahrnehmung, Erinnerung, Urteil, Gefühl, Wille) findet dann Anwendung in der Lösung der Aufgabe einer apriorischen Typik möglicher Konkretionen. Jedenfalls ist zunächst das Material an streng beschreibenden Grundbegriffen gewonnen, mittels deren alle Konkretionen fixierbar sein müssen. Und umgekehrt ist es in freier Abwandlung der sich zunächst aufdrängenden konkreten Bewusstseinsgestaltungen möglich, immer neue konkrete Gestaltungen (cog[itationes]) zu bilden und Typenbegriffe zu konstruieren.
All diese Aufgaben sind dem allgemeinen Typus nach dieselben in allen Sphären der imaginatio. Überall, wo uns in direkter Anschauung Gestaltungen gegeben sind, können wir auf Beschreibung und Analyse und auch auf eidetische Analyse und Klassifikation ausgehen.
F IV 3/7b "89"
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In dieser Hinsicht verhält es sich also gleich mit den Gegebenheiten phänomenologischer Anschauung, der Anschauung von cogitationes, und mit den Gegebenheiten der sogenannten äußeren Anschauung, also z.B., wie wir es vorhin besprachen, mit den a priori zu erwägenden möglichen imaginativen Raumgestaltungen, mit den imaginativen Gegebenheiten erfüllter Raumgestalten, den möglichen konkreten Dinggegebenheiten etc.
Eine nähere Untersuchung zeigt, dass diese Gegebenheiten äußerer imaginatio alle in die Phänomenologie in gewisser Weise hineingehören, obschon sie in einer Art erforscht werden können, die auf Aktcharaktere, auf die spezifische Bewusstseinsseite, keine oder so gut wie keine Rücksicht nimmt. In der Phänomenologie, beschäftigt mit den konkreten cogit[ationes], stoßen wir unter dem Titel Korrelat hinsichtlich der Akte sogenannten sinnlichen Anschauens auf erscheinende Dinge als solche, erscheinende Raumgestalten als solche mit erscheinenden Farben, Geruchs-, Tastbestimmtheiten etc. Und von da aus weitergehend, überzeugt man sich, dass alle Wesensfeststellungen hinsichtlich der erscheinenden Gegebenheiten der äußeren imaginatio in Wesenszusammenhänge treten mit Wesensfeststellungen über gewisse Gattungen von cogit[ationes] und sich in eine allgemeine Wesenslehre der cogit[ationes] schließlich einordnen. Von diesem Gesichtspunkt aus, nämlich wenn man diese Einordnung mit im Auge hat, rechtfertigt sich die Rede von Phänomenologie der möglichen Dinggestaltungen, darin der möglichen Raum- und Zeitgestalten der dinglichen Sphäre, auch der möglichen sinnlichen Phantome usw. Aber freilich ist gleich zu sagen, dass unter solchem Gesichtspunkt sich schließlich alles Apriori in die Einheit der Phänomenologie hineinordnet. Das spezifisch Phänomenologische besteht in der Wesenserwägung, welche uns in das intentional allumspannende Bewusstsein hineinversetzt, welche also alles, was eidetische Betrachtung ergibt, in Beziehung setzt zum eidetischen Wesen des Bewusstseins, in dem sich alles Sein, wie ich mich auszudrücken pflege, „konstituiert“.
Sind wir den in der mathematischen Intuition gegebenen, im mathematischen Denken erforschten Zahlen und Zahlbeziehungen reflexionslos zugewendet, vollziehen wir die betreffenden Intuitionen und Denkakte, so treiben wir Mathematik, und wir wissen nichts von Phänomenologie. Nehmen wir aber das Eingesehene, das unmittelbar oder mittelbar Ergründete, als Korrelat, setzen wir es in Beziehung zum einsehenden, begründenden, demonstrierenden und konstruierenden Denken,
F IV 3/8a "90"
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und erforschen wir die Wesenszusammenhänge zwischen Zahl und Zählen, Kollektion und Kolligieren, zwischen mathematischem Satz und mathematischem Urteilen, zwischen mathematischem Beweis und Akten des Beweisens etc., so treiben wir Phänomenologie, und die gesamte Mathematik gewinnt phänomenologische Bedeutung: Jeder ihrer Begriffe und Sätze wird zum Index für phänomenologische Zusammenhänge und tritt in sie ein als Korrelat. Ebenso: Bewegen wir uns in der Sphäre der imaginativen Gegebenheiten der äußeren Wahrnehmung und Anschauung überhaupt, stellen wir ihre Wesensartungen fest, ihren Aufbau aus imaginativ zu erfassenden Komponenten, treiben wir eine apriorische Typik dieser Gegebenheiten, so ist das zwar keine Naturwissenschaft im gewöhnlichen Sinn, aber es ist ein Apriori möglicher Naturbeschreibung, das wir in rein ont[ologischer] Einstellung gewinnen können. Wir sagen dabei höchstens: Es soll die Natur „rein imaginativ beschrieben“ werden. Was die imaginatio sei, was äußeres Anschauen u. dgl. näher sei und wie dasselbe sich selbst wesensmäßig beschreiben lässt, das bleibt außer Frage. Zugewendet sind wir dem Angeschauten und den daraus zu entnehmenden Wesen.
Sowie wir aber reflektierend in das Anschauen des Angeschauten übergehen und die Wesensverhältnisse zwischen dem einen und anderen erforschen, treiben wir Phänomenologie; und nun gewinnt alles vordem in ont[ologischer] Einstellung Erforschte phänomenologische Bedeutung. Man kann sich allerdings davon überzeugen, dass die Eidetik der Gegebenheiten der äußeren imaginatio mit der Eidetik der cogit[ationes] von Anfang an besonders nahe verknüpft ist.
F IV 3/8b "90"
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Die Phänomenologie vollzieht sich fast ganz in Form von Wesensdeskriptionen, die sich in direkter Intuition bewegen. Nämlich es fehlt nicht ganz an mittelbaren Schlüssen, aber sie treten hinter der ungeheuren Arbeit direkter Analyse zurück. Die entscheidenden Feststellungen werden überall der unmittelbaren Intuition verdankt. Diese aber bewegt sich nicht in bloß phansischen Analysen, sie weist uns auch die Korrelate auf; und die Beschäftigung mit den Korrelaten führt alsbald innerhalb der Grundklasse der äußeren Imaginationen auf Deskription von Natur überhaupt, aber zunächst nur von Natur eben als imaginativer Gegebenheit. Da wir alle in diesem naturwissenschaftlichen Zeitalter eben naturwissenschaftlich erzogen sind, aber nicht erzogen sind, imaginative Naturgegebenheiten in Wesenseinstellung als solche für würdige Objekte wissenschaftlicher Beschäftigung anzusehen, und da wir alle auf diese eigenartige Seins- und Wesenssphäre allererst von der neuen Phänomenologie aus gekommen sind, deren Interesse eben Wesensbetrachtung der Arten und Formen sinnlicher Gestaltungen erfordert, so begreift sich unsere Neigung, dergleichen Wesenserforschung von imaginativen Naturgegebenheiten eben als Phänomenologie anzusehen. Wir sprechen von Dingphänomenologie, von Phänomenologie der Scheine etc. Aber man muss sich klarmachen, dass das eben nur in gewissem Sinne eine richtige Bezeichnung ist, da schließlich alle Sinnlichkeiten eidetisch an sich erforschbar sind, so gut wie Zahlen, in ont[ologischer] Einstellung. Erst wenn wir sie mit den Bewusstseinscharakteren beschreiben, in denen sie sich als Korrelat von Bewusstsein darstellen, und wenn wir das Bewusstsein selbst, in dem sie zur Gemeintheit und Gegebenheit kommen, beschreiben, erst in dieser Verflechtung, zu der sie freilich wesensmäßig gehören, haben wir im vollen Sinne Phänomenologie der Sinnlichkeiten.
B II 19/54a "91" "54"
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Wir [1] wollten heute vom Problem der transzendentalen Konstitution der Gegenständlichkeiten im Bewusstsein sprechen. [2] Es bietet sich zunächst dar in Bezug auf reale Gegenständlichkeiten, die sich im phansischen Zusammenhang darstellen bzw. bekunden, ihm aber transzendent sind, in weiterer Folge aber erweitert es sich über alle Gegenständlichkeiten überhaupt.
Hinsichtlich eines psychischen Erlebnisses phänomenologische Reduktion übend, kommen wir auf die cogit[atio]. Zum Beispiel, ich nehme einen Baum wahr und gehe in der Reduktion zurück auf das Erlebnis des Wahrnehmens in sich selbst und nach seinem Wesen, auf die cog[itatio]. Vollziehen wir die Reduktion zunächst nur an dem gesehenen Baum, setzen wir sein wirkliches Sein, das wir im Wahrnehmen setzen, in Anführungszeichen, so können wir in der Reduktion etwa erfassen den erscheinenden Baum, so wie er erscheint. Von da können wir ausgehen, wir können unseren Blick rein darauf richten, dass „dieser Baum da erscheint“ und von einer gewissen Seite erscheint, es erscheinen die und die Farben und sonstigen sinnlichen Bestimmtheiten, so und so ausgebreitet über das in die Erscheinung fallende Oberflächenstück. Das erscheinende Ding gliedert sich in der Erscheinung in Stamm, Zweige, Blätter usw., und jedes erscheint so, dass von ihm eine „Seite“ „wirklich“ in die Erscheinung fällt. Weiter können wir konstatieren, dass, wie es die Rede von erscheinender Seite fordert, als Seite eines Dinges, dieses Baumes da, auch nicht erscheinende Seiten in gewisser Seite mit da sind; die unsichtige Rückseite, das unsichtige Innere, ohne welches das Erscheinende ja kein erscheinender Baum, kein erscheinendes Raumding wäre, ist in gewisser Weise Miterscheinendes und doch nicht im eigentlichen Sinn Erscheinendes, es ist nicht eigentlich wahrgenommen und doch in der Baumwahrnehmung Mitgenommenes, Mitgegebenes. Und dabei bestehen Unterschiede größerer oder geringerer Bestimmtheit, das in der Wahrnehmung mitgenommene Innere, das Unsichtige, ist in unvollkommener Bestimmtheit bewusst.
[1] Beginn einer neuen Vorlesungsstunde (Mittwoch, 31. Juli 1912).
[2] Randbemerkung: Cf. 93. Soll nicht die allgemeine Erörterung vorher kommen?
B II 19/54b "91" "54"
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Die Beschreibung des Wahrgenommenen, des wahrnehmungsmäßig erscheinenden Baumes führt uns also auf sehr Verschiedenes und in verschiedenem Sinn Erscheinendes, Wahrgenommenes.
Wieder in anderer Richtung liegt der Charakter des „wirklich“, mit dem der erscheinende Baum dasteht in der Wahrnehmung, während in einer fingierenden Baumphantasie dieser Charakter fehlt und im Fall einer bewussten Illusion ersetzt ist durch das „durchstrichene wirklich“. Auch das „wirklich“, das „nichtig“ und dergleichen Charaktere als solche des Erscheinenden heißen in einem gewissen guten Sinn „Erscheinendes“ und eventuell „bloß“ Erscheinendes. Aber in einem ganz anderen Sinn. Sie liegen in einer ganz anderen Dimension und spielen eine ganz andere Rolle.
Während uns ein Baum wahrnehmungsmäßig bewusst ist, können wir aber noch sehr viel anderes zu beschreiben finden. Der erscheinende Baum kann in Fluss kommen, er erscheint immerfort, aber er erscheint im Fluss von immer neuen Seiten. Wir können uns immer imaginativ den erscheinenden Baum in solchen Fluss gebracht vorstellen und können nun das Wesen des Erscheinenden in den verschiedenen Phasen dieses Flusses und andererseits das, was seine Einheit macht, beschreiben. Kontinuierlich erscheint immer Neues „vom“ einen und selben Gegenstand, immer neue Beschaffenheiten, immer neue Färbungen und die alten Färbungen in „neuer Weise der Gegebenheit“. Und immerfort erscheint doch ein und derselbe Gegenstand. Das erscheinende „Eines“, das dasselbe ist, und das Wechselnde an erscheinenden Bestimmtheiten und an Gegebenheitsweisen dieser Bestimmtheiten ist ein prinzipiell zu Scheidendes. [1]
Ferner, immerfort sei es Wahrnehmung im normalen Sinn, immerfort „erscheint“ der Baum als wirklich. Aber im Fortgang eines solchen Flusses erhält das Wirklich den Charakter eines sich immer neu bestätigenden Wirklich. Ebenso erhält das „unbestimmt“ einen immer neuen Inhalt. Das Unbestimmte der einen Phase bestimmt sich in den neuen Phasen näher, eventuell bestimmt es sich aber im Sinn des „anders“ als vorausgesetzt. Dabei aber treten neue Momente „unbestimmt“ auf.
[1] Randbemerkung: Ferner Sehding.
B II 19/55a "92" "55"
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In all den bezeichneten Richtungen kann die Beschreibung sich in einer Höhe der Allgemeinheit halten, die sich nicht an den erscheinenden Baum bindet, sondern das prinzipiell Allgemeine heraushebt, das zum erscheinenden Gegenstand der Kategorie Ding überhaupt unaufhebbar gehört bzw. was als prinzipielle Möglichkeit zum Wesen eines Dingerscheinenden zu rechnen ist.
Wir können aber von da noch in ganz andere Dimensionen eingehen. Zum Wesen des Dingerscheinenden gehören Möglichkeiten gewisser Reflexion, z.B. dass der Blick von der erscheinenden Gegenständlichkeit, den erscheinenden Farben, Formen usw. sich in gewisser Reflexion wenden kann auf Empfindungsgehalt und „Auffassung“, oder von dem Charakter des „wirklich“, „nichtig“ u. dgl. sich zurückwenden kann auf das „Stellungnehmen“, das sich etwa ausspricht in den Worten: Ich halte für wirklich, ich erfasse es – worin auch liegt: Ich bin darauf gerichtet, ich nehme, was sich mir gibt, und nehme es als wirklich usw.
So Schritt für Schritt weitergehend, kommen wir vom Ontischen und seinen Charakteren zum Bewussthaben, zum Psychischen in einem besonderen Sinn, zum Gerichtetsein-auf, zum Interessiertsein-für, zum urteilenden, wertenden, wollenden Stellungnehmen; und da gibt es wieder kardinal Verschiedenes zu beschreiben. Und all das gehört wesensmäßig mit [zu] dem in ont[ischer] Richtung, in Richtung auf den Gegenstand, auf den gemeinten, erscheinenden und seine Erscheinungsweisen, zu Erfassenden.
In dieser Weise kommen wir, den Wesen und Wesenszusammenhänge nachgehend, auf alle Richtungen phänomenologischer Gegebenheiten, soweit sie sich auf denselben Gegenstand beziehen. Wir können dabei in freier Spontaneität den Abwandlungsmöglichkeiten nachgehen, die da a priori vorgezeichnet sind.
B II 19/55b "92" "55"
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Aus dem in der Ausgangserscheinung Erscheinenden als solchen können wir die Motive entnehmen, von seiner Idee können wir uns gewissermaßen leiten lassen [1] für die ideale Konstruktion möglicher Erscheinungsreihen, die zu einem solchen Erscheinenden wesensmäßig gehören, die alle ihrem Wesen nach Erscheinungen von demselben Ding sind, in denen schließlich dieses Ding jede ihm zugehörige Seite, jede ihm zukommende Bestimmtheit zeigen würde; in denen es, wenn sie kontinuierlich einheitlich ablaufen, eben als kontinuierlich eines und dasselbe zu immer neu sich bestätigender und dabei immer vollkommener, reicher bestimmter Gegebenheit kommen würde. Es ist dabei der Wesenszusammenhang zwischen dem Ding, das erscheint, und diesen Erscheinungsmöglichkeiten zu studieren, vielleicht einzusehen, dass diese Erscheinungen einen bestimmten Bau haben, nicht nur einzeln, sondern auch in ihrer Kontinuität, dass diese Kontinuität, die eine vieldimensionale ist, eine unendliche, vielfältig unendliche ist, dass diese Unendlichkeit zur Idee der Dinggegebenheit gehört, dass eine vollkommene Dinggegebenheit als ruhende und geschlossene Erscheinung undenkbar ist usw.
Es wäre dann zu studieren gegenüber der Idee kontinuierlich fortlaufender Einstimmigkeit in der Erscheinungsgegebenheit eines und desselben Dinges, in welcher alle Bestimmung Näherbestimmung ist, die (im Stil vollkommener Einstimmigkeit) niemals gesetzte Bestimmtheiten durchstreicht, niemals den Charakter der Andersbestimmung hat oder gar der völligen Durchstreichung des ganzen Erscheinenden, es wäre, sagte ich, dann der Gegenfall zu studieren: kontinuierlicher Fortlauf von Erscheinungsreihen, in welchen ein Bruch auftritt, in denen entweder Einheit des Erscheinenden durchzuhalten ist, aber mit Korrekturen, mit Durchstreichungen und Umbestimmungen, oder in denen völliger Widerstreit auftritt, eine Umwertung der ganzen Erscheinungsreihe, eine durchgehende Auffassungsänderung vermöge deren das Erscheinende als etwas durchaus anderes dasteht (und die ursprüngliche Auffassung als illusionär charakterisiert ist). Oder der Fall, wo zweierlei Auffassung, zwei sich in Widerstreit durchsetzende Erscheinungsreihen in ungeschlichtetem Streit bewusst sind: Und das alles
[1] Randbemerkung: Transzendentale Leitfäden.
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ist genau zu studieren nach allen ont[ischen] und phansischen Untersuchungsrichtungen, nach anschaulichem Gehalt, nach Charakteren, nach Akten und Aktkomponenten usw. Die prinzipielle Natur, den prinzipiellen Bestand an Komponenten und Formen der cogit[atio] , die zur Idee [einer] sich durchaus einstimmig gebenden, sich vollkommen ausweisenden Dingwirklichkeit gehören, können wir so erforschen; ebenso wie all das, was gehört zur Idee einer unvollständigen oder auch unvollkommen einstimmig gegebenen Wirklichkeit, und [zu] der Idee eines die Einstimmigkeit restituierenden, eines berichtigenden Erscheinungsganges oder [zu] der Idee eines das Erscheinende als nichtige Illusion oder als bloßen Schein charakterisierenden Erscheinungsganges. Wir sprachen bisher von Dingen als zur Gegebenheit kommenden. Allgemeiner können wir überlegen: Gegenstände jedweder Kategorie können in verschiedener Weise bewusst, in verschiedener Weise glaubensmäßig vermeint sein. Es gilt uns als selbstverständlich, noch vor aller Phänomenologie, dass der Seinsglaube, die Setzung als seiend, begründet oder unbegründet sein kann, und wenn begründet, dann unmittelbar oder mittelbar begründet. In letzter Hinsicht ist es uns selbstverständlich, dass alle mittelbare Begründung auf unmittelbare zurückführt, und unmittelbare vollzieht sich aufgrund unmittelbar gebender „Anschauung“. Das gilt in jeder kategorialen Sphäre. Also alle Seinsbegründung, alles Recht, von Seiendem irgendeiner Kategorie zu sprechen, führt darauf zurück, dass Seiendes solcher Kategorie zu unmittelbarer Gegebenheit kommt. Nur in der unmittelbaren Gegebenheit können wir das erfassen, was zum Wesen des Seienden der betreffenden Kategorie gehört, nur in der klaren und vollkommenen Intuition können wir herausstellen, was den Wesensbestand der Kategorie ausmacht. Und nur in der Gegebenheit können wir erforschen, was Gegenständliches der Kategorie immerfort wesentlich mit dem „Bewusstsein“ eint, was alles überhaupt nicht nur zum Inhalt des Gegenstandes,
B II 19/56b "93" "56"
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sondern auch zu seiner möglichen Gegebenheitsweise gehört, was das „wirklich“ und, in anderen Fällen, [das] Nichtig, Zweifelhaft usw. besagt, wieder was das Gegeben besagt, und was für Wesenszusammenhänge mit all dem ausmacht, was der Titel cogit[atio], Bewusstsein von solchem Gegenständlichen, irgend erfassen mag. Hierher gehört auch all das, was das vorphänomenologische Denken als selbstverständlich voraussetzt, z.B. was soeben leitend war für unseren Überlegung, dass alles rechtmäßig über Gegenständliches jeder Kategorie Auszusagende auf unmittelbare Gegebenheit zurückführt usw.
Wir erinnern uns hier auch daran, dass all die ungeheuren Schwierigkeiten, in die sich die Philosophie unter dem Titel erkenntnistheoretische Schwierigkeiten seit Jahrtausenden verwickelt hat, darin ihren Grund haben, dass eben alles Sein für die Erkenntnis erkanntes Sein ist, und das offenbar wesensmäßig das in der Erkenntnis als seiend Gesetzte und mit den und den Bestimmungen Gesetzte eben in dieser Intentionalität der Setzung in Zusammenhang steht mit dem Bewusstsein. Auf diesen Zusammenhang beziehen sich alle Rätsel der Noetik. Offenbar gibt es hier nur einen Weg, all diese Schwierigkeiten und Rätsel zu lösen, alle Verkehrtheiten, die aus mangelhafter Analyse dieser Zusammenhänge stammen, zu beseitigen, nämlich in systematischer Weise die Studien zu vollziehen, die wir soeben angedeutet haben, in systematischer Weise im Rahmen vollkommener Klarheit alle auf jede Kategorie bezüglichen phänomenologischen Untersuchungen durchzuführen.
B II 19/57a "94" "57"
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Diese Aufgabe bezeichne ich allgemein als die der phänomenologischen Konstitution des Gegenstandes im Bewusstsein. Also sie ist für Gegenständlichkeiten jeder eigenartigen Gegenstandskategorie in prinzipieller Allgemeinheit zu stellen und zu lösen. Für jede Kategorie müssen wir Einsicht in das gewinnen, was ihr unmittelbares (und somit in unmittelbarer Gegebenheit zu erfassendes und zu analysierendes) Wesen ausmacht, und zugleich Einsicht in all das, was diesem zu gebenden Wesen Wesensbeziehung gibt zum gebenden Bewusstsein und allen irgend zu ihm gehörigen Korrelaten. Aber in Bezug auf alle Gegenstandskategorien müssen wir nicht nur Klarheit darüber gewinnen, was in Bezug auf sie die Funktionen des Anschauens, des sich in der Anschauung Darstellens leisten, was wesensmäßig darin liegt, dass in mannigfaltigen „Erscheinungen“ oder „Zuständen“ ein und dasselbe, die Einheit eines Gegenstandes, anschaulich ist, sondern auch wie sich auf dem Grund schlichter Anschauung in allen Gegenstandskategorien Einheiten höherer Stufe bewusstseinsmäßig konstituieren; wie auf dem Grund z.B. des schlichten Anschauens und des damit sich verbindenden Erfassens sich im Zusammenfassen des einen und anderen Gegenstandes das Kollektivum als gegenständliches bewusst macht; wie im Erfassen eines Gegenstandes und im Fortgang zum Erfassen eines Teiles das Bewusstsein eines Teiles als Teiles, eines Ganzen als Ganzen sich konstituieren kann, oder das Bewusstsein eines Subjektes und seines Prädikates, eines Referenten und Relatums, andererseits auch einer Beziehung, eines Sachverhaltes als Gegenstand usw. Weiter kommen überall infrage die Möglichkeiten der begreifenden und aussagenden Funktionen, die Stufe des ausdrückenden und schließenden Denkens, die Klärung der Rede von Wahrheit und Falschheit, die in Bezug auf Aussagen üblich ist, und die korrelativen Reden vom Bestehen oder Nichtbestehen der ausgesagten Sachverhalte, vom Gelten der (in einem anderen Sinn) in den Aussagen ausgesagten Urteile usw.
Also fürs Erste:
B II 19/57b "94" "57"
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Was leisten die niederen Funktionen des schlichten Anschauens, was leisten die höheren verknüpfenden und beziehenden Funktionen des Kolligierens, des Explizierens, Relativierens, was die über all dem wieder liegenden Funktionen des begreifenden Denkens? Was besagen in allen diesen Stufen die Unterschiede der vollkommenen und unvollkommenen Gegebenheit bzw. Gedachtheit, und wie sind die Vollkommenheiten bzw. Unvollkommenheiten wesensmäßig aufeinander gebaut? Wie sieht insbesondere der Bewusstseinszusammenhang sogenannter adäquater logischer Begründung aus, in dem als notwendiges Korrelat bewusst ist der Gegenstand als nicht bloß überhaupt in begrifflicher Fassung gedachter, sondern als gültig gedachter, [der] nicht bloß überhaupt gedacht ist und ausgesagt ist als seiend und soseiend, sondern als gültig soseiend und nicht nur das, sondern als hinsichtlich seiner Gültigkeit „eingesehener“? Wie sind wesensmäßig zu beschreiben und einsichtig zu machen die damit kontrastierenden Bewusstseinszusammenhänge der Entgründung, in denen das Sein des Gegenstandes und sein Sosein bzw. der prätendierte Satz [sich] nicht ausweist, sondern als falsche Prätention Abweisung erfährt, und wie hängt damit zusammen das einsichtig, evidente Bewusstsein des Nichtseins?
Die allgemeine Berufung auf ein Gefühl, auf einen irgendwelchen [Vorstellungen] sich anhängenden Charakter der Evidenz der Denknotwendigkeit u. dgl. ist etwas gänzlich Leeres und Nichtsbesagendes, ja bei genauer Betrachtung etwas Verkehrtes. [1] Evidenz sagt Einsichtigkeit, weist also, und doch wohl nicht ohne Grund, hin auf so etwas wie Sehen, wie Schauen, also auf ein irgend Verwandtes mit dem Wahrnehmen. So wie es aber verkehrt wäre, den Unterschied zwischen Anschauen eines Dinges und leerem Vorstellen oder Denken desselben Dinges dadurch bezeichnen zu wollen, dass dieselbe Dingvorstellung einmal mit einem „Gefühl“ oder einem charakteristischen Index „Anschauung“ behaftet sei und das andere Mal nicht, genauso für alle Arten und Stufen der Evidenz. Was jeweils Evidenz heißt, ist nicht irgendein Gefühl, das wir index veri et f[alsi] oder Notwendigkeitsbewusstsein taufen; sondern so wie sinnliches Anschauen und dasselbe sinnliche Nicht-Anschauen und doch Bewussthaben von Grund aus verschiedene Phänomene sind, die nur in gewissen Wesenszusammenhängen stehen, so gilt das für Einsichtigkeit des begreifenden Denkens und Nicht-Einsichtigkeit desselben Denkens, und so überall. Überall kommt es darauf an, den Bau der verschiedenen Bewusstseinsarten wesensmäßig [zu] analysieren und alle Wesenszusammenhänge zur Klarheit [zu] bringen.
[1] Randbemerkung: Evidenz.