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F I 4/15a "9"
Transcription
Und wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Man konstruiert sich etwas Psychologisches und deutet in der Reflexion die Wesensschauung und das geschaute Wesen weg und schiebt ihnen etwas total Anderes unter. Hier galt es und gilt es noch weiter, den Kampf gegen den Psychologismus durchzukämpfen; es gilt, den Star [zu] stechen, der die Zeitgenossen ideenblind gemacht hat. Es ist eine Seelenblindheit, ähnlich wie sie der Hypnotisierte hat, der mit gesunden Augen sieht und vermöge der hypnotischen Suggestion doch nicht sieht. Denn, wie gesagt, alle sehen und sehen immerfort Ideen, sie operieren immerfort mit ihnen in ihrem Denken, sie erklären und deuten das aber in nachkommenden erkenntnistheoretischen Reflexionen weg, ohne den Widersinn zu merken, der hier wie überall aus der Verkennung ursprünglicher Gegebenheiten entspringt. Besonders lehrreich ist in dieser Hinsicht die Nachweisung der widersinnigen Wegdeutung der logischen Ideen und der auf sie bezüglichen logischen Gesetze bei J. St. Mill und seinen Schülern, worüber Sie in meinen Prolegomena nachlesen können. Und ebenso die nicht minder absurden und leicht nachzuweisenden Widersinnigkeiten seiner Missdeutung der reinen Mathematik, insbesondere der reinen Arithmetik, die abermals sich in durchaus idealen Sphären bewegt, durchaus auf Wesenserschauungen anstatt auf Erfahrungen beruht. In der Tat ist es für den Vorurteilslosen, der unmittelbar Gegebenes als gegeben gelten lässt, ganz offenbar, dass die Anzahlenreihe, in der 2 eine Zahl, 3 eine andere Zahl ist usw., eine Ideenreihe und selbst eine Idee ist. Ebenso ist jeder rein logische und rein arithmetische Satz, wie a + 1 = 1 + a oder 2 x 2 = 4, auch jeder falsche Satz, wie 2 x 2 = 5, eine Idee. Das unmittelbar Gegebene liegt vor allen Theorien, es ist der letzte Grund, der allen Theorien eben Grund zu geben vermag. Das anzuerkennen und jedwede unmittelbare Gegebenheit, aber auch nur so, wie sie Gegebenheit ist, gelten zu lassen, das ist die echte Vorurteilsfreiheit, die wir überall betätigen müssen. Die Freiheit, die sich und uns die Naturwissenschaft erkämpfte, war nur eine halbe Freiheit.
Transcriber
Thomas Vongehr