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F I 4/17a "11"

Transcription

Es [1] bedarf jetzt aber einer wesentlichen Erweiterung unserer letzten Darstellungen. Wir haben in den Vordergrund gestellt die Unterscheidung zwischen realer Wirklichkeit und idealer Wirklichkeit. Zur ersteren gehört alles in individueller Einmaligkeit wirklich Seiende. (Dazu ist zunächst Folgendes zu bemerken: Wir dachten unter dem Titel reale Wirklichkeit immer an die Naturwirklichkeit; doch müssen wir es hier offen lassen, ob und in welchem Sinn alles individuelle Sein sich der Einheit der räumlich zeitlichen Naturwirklichkeit einordne. Für unsere jetzigen Zwecke brauchen wir uns in dieser Hinsicht nicht zu entscheiden, und wir wären auch gar nicht vorbereitet dazu. Diese Bemerkung ist im Weiteren wohl zu beachten, wenn wir fortfahren, von realer Wirklichkeit zu sprechen.) Ferner, ad vocem „wirklich“ ist zu sagen: Ein Ding ist wirklich, das sagt, es ist nicht bloß fingiert, es ist nicht in einer Pseudoerfahrung bewusst, in irgendeinem fälschlichen Vermeinen irgendwelcher Art als seiend gesetzt. Gleichwertig damit ist auch: Ein Ding ist wirklich, wenn es als Subjekt einer affirmativen kat[egorischen] Wahrheit fungieren kann. Ebenso ist ein Ideales wirklich, wenn es in einem gültigen seinssetzenden Bewusstsein bewusst ist; wirklich ist die Anzahl 2, nicht aber die durch das operative Gebilde √-2 angezeigte Anzahl. Wirklich ist das geometrische Gebilde regelmäßiges Tetraeder, nicht aber das Gebilde regelmäßiges Dekaeder. Der Geometer sagt: Dergleichen Gebilde (eine Idee) existiert nicht.

In diesem Sinn haben wir also von zweierlei Wirklichkeiten, zweierlei Sphären wirklich seiender Gegenständlichkeiten gesprochen. Demnach ergibt sich hinsichtlich des Denkens und Erkennens zunächst der Unterschied zwischen demjenigen, das auf reale, und demjenigen, das ausschließlich auf ideale Wirklichkeiten abzielt, wobei wir also die Fälle der Mischung dem ersteren zurechnen.


[1] Beginn einer neuen Vorlesungsstunde (Samstag, 11. Mai 1912).

Transcriber

Thomas Vongehr