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F I 16/44b "26"

Transcription

dann kann und muss es eine Wesenslehre der Erlebnisse geben. Jedes Erlebnis hat seinen immanenten „Inhalt“; nun eben dieser ist rein fassbar und bestimmt die Idee des so gearteten Erlebnisses überhaupt: die Idee der Wahrnehmung überhaupt, der Erinnerung überhaupt, des Urteilens überhaupt usw. Es ist also evident: Es muss wie eine Ontologie der physischen Natur so auch eine Ontologie des Geistes und des individuellen wie sozialen Geistes geben, und dieser Ontologie ordnet sich ein die Eidetik der Erlebnisse. Trotz aller wissenschaftlichen Anstrengungen, die die Psychologie in der Neuzeit gemacht und keineswegs ohne Erfolg gemacht hat, ist sie sich doch dessen nicht bewusst geworden, dass sie die Stufe der nomologischen Theorie nicht dadurch erringen könne, dass sie sich des größten Ausmaßes physiologischer und physikalischer Methodik versichert (die durch die Verbindung des Psychischen mit dem Physischen ermöglicht ist), sondern dadurch, dass sie sich der eidetischen Voraussetzungen der nomologischen Theorie versichere, die in ihrem eigentümlichen Gebiete liegen, eben im psychischen. Dieser Voraussetzungen konnte sich die Psychologie aber nicht versichern, weil sie in ihrer positivistischen Voreingenommenheit die Möglichkeit psychisch-eidetischer Forschung gegenüber der psychisch-empirischen nicht gesehen, geschweige denn erkannt hat, dass hier ein ungeheures Feld des Apriori vorliege, das in gleicher Weise fundamental ist für jede Theorie der Vernunft wie für jede Ausübung psychologisierender Vernunft in Form strenger und nomologischer empirischer Psychologie.

Allerdings, die physische Naturwissenschaft hatte für ihre Entwicklung einen ungeheuren historischen Vorteil darin, dass den Anfängen konkreter theoretischer Naturbetrachtung parallel lief, ja mit einem Vorsprung voranlief, die systematische Ausbildung einer völlig reinen mathematischen Eidetik, nämlich die in der platonischen Schule erwachsene euklidische Geometrie. Das bedeutete zugleich eine Erziehung des menschlichen Geistes für mathematisches Denken überhaupt. In der Zeit der Renaissance, als der Philosophie und Wissenschaft eine neue Jugend blühte und sie mit der Urkraft und dem Schwung der Jugend die antiken Überlieferungen empirischer und eidetischer Forschung aufnahm, da erstarkte vor allem die Mathematik und setzte immer neue große Zweige an; und mathematische Wesenserkenntnis erhielt aber zugleich die Funktion methodischer Fundamentierung der empirischen Naturerkenntnis. Die Idee der Natur enthüllt die bis dahin nicht durchleuchteten Tiefen, aus denen neue Wesensgesetzlichkeiten herausgeholt und zur bestimmenden Norm der Forschung gemacht wurden. Mit diesen verflochten sich alsbald die unter ihrer Anregung formulierten ersten quantitativen Naturgesetze der empirischen Physik und Astronomie.

Transcriber

Thomas Vongehr