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B II 19/4a "35"

Transcription

Wir [1] haben bisher allgemein das Recht der eidetischen Disziplinen verfochten und gegenüber den herrschenden empiristischen Vorurteilen zu zeigen versucht, dass sogar im eigensten Interesse der empirischen Wissenschaften die übliche Missdeutung und feindliche Ablehnung des reinen Eidos zu beklagen ist. Die Wissenschaften von der physischen Natur in ihrer jetzigen hohen Entwicklung leiden in dieser Hinsicht allerdings nicht Schaden. Sie haben den unschätzbaren Vorzug, dass die für ihre Entwicklung zur Stufe nomologischer Theorie erforderliche reine Mathematik längst da war und nun da ist, so ausgereift, dass empiristische Missdeutungen ihr und ihrer naturwissenschaftlichen Anwendung nichts anhaben können. Jede neue mathematische Generation lernt eben an den vorhandenen Theorien die Forschungsart reiner Mathematik kennen, also in den Gebieten von Raum, Zeit, Zahl, Kraft u. dgl. reine Ideenforschung vollziehen. Ob man hinterher, in nachkommenden verkehrten Reflexionen das Eidet[ische] für Empirisches erklärt, seinen Wesenscharakter fälschlich umdeutet, darauf kommt es nicht an, da diese Reflexionen für die Anwendung der Mathematik auf die Naturwissenschaft nicht infrage kommen. Anders steht die Sache aber hinsichtlich der Psychologie, wo es allererst gilt, die entsprechende psychologische Eid[etik] zu begründen und wo das empiristische Vorurteil das Aufkommen eidetischer Forschung in der psychologischen Sphäre überhaupt verhinderte oder zu verhindern tendiert. Solange es aber daran fehlt, kann die Psychologie die niedere Stufe einer empirischen Experimentallehre und Beobachtungskunst nicht überschreiten und auch nicht in den kleinsten Ansätzen die Stufe der psychologischen Nomologie erreichen. De facto steht die experimentelle Psychologie nicht einmal auf der Stufe der experimentellen medizinischen Therapie


[1] Randbemerkung: 12. 6. 1912 [Mittwoch, Beginn einer neuen Vorlesungsstunde].

Transcriber

Thomas Vongehr