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B II 19/14a "45"
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Rekapitulation. [1] Nach den Ausführungen der letzten Vorlesung gibt es eine ideell geschlossene Gruppe von Wissenschaften, die sich alle einem obersten Wissenschaftsziel unterordnen, dem der Erforschung der ganzen Welt.
Die Welt, das ist ein Titel für das All der Realitäten niederer und höherer Stufe, also die bloß materiellen Dinge, die der Titel Natur im engeren Sinne abschließt, die Geister bzw. die beseelten Leiber, die wir Zoa, Menschen und Tiere nennen. Und des Weiteren die psychophysischen Gebilde höherer Stufe, die gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Einheiten wie Familie, Volk, Staat usw. Das Universum der Realitäten kann theoretisch erforscht werden nach Sein, Seinszusammenhängen, Seinsabhängigkeiten. Es [2] kann aber auch unter Wertgesichtspunkten und praktischen Gesichtspunkten betrachtet und erforscht werden, und so erwachsen mannigfache theoretische, normative und praktische Disziplinen. Die Erforschung kann dabei empirische sein, also bezogen auf die erfahrungsmäßig gegebenen Realitäten, oder sie kann eidetische sein, also nicht auf die wirkliche Welt, sondern auf die Idee möglicher Welt, möglicher Realitäten höherer und niederer Stufe rein ideal bezogen.
Wir sagten nun, alle diese Wissenschaften tun wir beiseite, wenn wir zur Phänomenologie übergehen. Damit sind fast alle bekannten Wissenschaften ausgeschlossen, alle Naturwissenschaften, die Psychologie, die Geisteswissenschaften, auch Geometrie, die reine Zeitlehre und Bewegungslehre, reine Mechanik usw.
Nicht ausgeschlossen ist bloß die formale Logik und die Disziplinen der formalen Mathesis, die reine Arithmetik, die formale Ordnungslehre, Mannigfaltigkeitslehre, die von Gegenständen überhaupt handelt, also nicht speziell von Realitäten, ebenso von Mengen, Ordnungen, Mannigfaltigkeiten überhaupt in einer eben nicht an die Idee
[1] Beginn einer neuen Vorlesungsstunde (Mittwoch, 19. Juni 1912).
[2] Randbemerkung: Ergänzung!
Transcriber
Thomas Vongehr