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B II 19/30b "54"

Transcription

Ein Reales der Natur ist auch gegeben, d.i. wir erfahren es, wir nehmen es wahr. Aber das gesehene Ding ist nicht absolut gegeben, es ist vielmehr gegeben durch wechselnde Dingerscheinungen, es stellt sich dar, einmal von der Seite, das andere Mal von jener, einmal in dem Zustand, das andere Mal in jenem. Jeder solchen Gegebenheitsweise entsprechen bewusstseinsmäßig verschiedene Erscheinungen. Dass das Ding so und so erscheint, das ist absolut gewiss, das ist die Gegebenheitsweise der cogitatio. Aber jede Erscheinung lässt es offen, dass das Erscheinende, obschon es als selbstgegenwärtig, genauer als leibhaft und wirklich daseiend erscheint, doch nicht ist. Jede Erfahrung kann im Fortgang der Erfahrungen diskreditiert werden; von ihm hängt es ab, ob wir die Erfahrungssetzung durchhalten können und sagen: Das Erscheinende bestätigt sich immerfort als wirklich. Oder ob wir sagen müssen: Es erweist sich als Illusion, als Realitätsschein und nicht als wirkliche Realität. Diese eigentümliche Situation ist einzusehen als etwas zum Wesen aller Setzung von physischer Realität als erscheinender Realität, als sich darstellender, notwendig Gehöriges. Das perzeptive Erscheinen aber von Realem, das Sich-Darstellen, das Erlebnis der Dingwahrnehmung ist nicht selbst wieder etwas, das sich bloß darstellt, das erscheint, und das bald so, bald so erscheinen, sich im Fortgang des Erscheinens bestätigen oder widerlegen kann. Das Erscheinen, das Bewusstsein, die cogit[atio] , die da Wahrnehmen des Baumes heißt, bringt etwas anderes nicht absolut Gegebenes zu Erscheinung, aber sie selbst ist im schlichten Hinblick darauf absolut gegeben und nicht wieder durch eine [da] hinterliegende Erscheinung gegeben. Das Reale ist dem Bewusstsein „transzendent“ (wie man nicht ganz deutlich zu sagen pflegt), das Bewusstsein selbst ist aber dem darauf gerichteten Bewusstsein des inneren Hinblickens immanent.

Hat danach Descartes die phänomenologische Sphäre gewonnen und sie für die Philosophie erschlossen? Leider müssen wir sagen: nein. Seine methodische Zweifelsbetrachtung und Infragestellung, die im Wesentlichen auf Augustin zurückgeht, leidet an dem kardinalen Versehen, dass zwar die äußere Realität ausgeschaltet wird, aber nicht die Realität des eigenen, erkenntnistheoretisch reflektierenden Ich.

Transcriber

Thomas Vongehr