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M III 6/6b "78"

Transcription

Methodologisch [1] leitet uns jetzt die Frage, ob die Phänomenologie mit einer Klassifikation der cogitationes zu beginnen und inwiefern sie eine solche anzustreben hat. [2] Kommt man von der Psychologie her, so liegt der Gedanke nahe, das Erste sei, hinsichtlich der Bewusstseinsphänomene konkret zu beschreiben und zu klassifizieren, auf dieser Unterlage abstrakte Wissenschaft zu treiben und dann durch Rückgang auf Elemente und Gesetze zu erklären. So fängt Brentano seine Psychologie mit einer Klassifikation der Bewusstseinserlebnisse an oder geht in wenigen Schritten auf eine solche los.

Sehen wir uns die Sachlage zunächst allgemein bei den Erfahrungswissenschaften an: In allen Erfahrungswissenschaften finden wir den Unterschied zwischen sogenannten konkreten und abstrakten, zwischen sogenannten beschreibenden und erklärenden Disziplinen, Bezeichnungen, die freilich unklar sind und oft falsch interpretiert werden. Die in einem Erfahrungsgebiet beobachteten Individuen ordnen sich, in ihrer empirisch-anschaulichen Konkretion genommen, unter Gattungen und Arten. Es sind empirische Gattungen, wesentlich inexakt. Es sind morphologische Allgemeinheiten und nicht exakte, reine Allgemeinheiten, so z.B. die Art Mensch, die Art Affe, Hund usw., die Gattung Säugetier. Ebenso ist auf psychologischem Gebiet jeder auf Persönlichkeiten, auf Charaktere, Dispositionen bezogene empirisch-allgemeine Begriff, auch die allgemeinen Begriffe, die sich z.B. auf konkrete Gestaltungen von Affekten beziehen, morphologisch und notwendig mit Vagheiten behaftet. Es ist charakteristisch für die zoologischen, botanischen und sonstigen Klassenbildungen und umfassenden Klassifikationen, dass dabei mit erfahrungsmäßig sich aufdrängenden (und im Fortgang der Erfahrung sich näher bestimmenden und begrenzenden) Typen operiert wird, in die zwar exakte bestimmende Begriffe, die zum Wesen der Naturobjekte gehören, eingehen können, aber niemals so, dass der Typus in einen festen Komplex solcher exakten Bestimmungen zu verwandeln wäre. „Mensch“ ist z.B. ein Typus und prinzipiell nicht etwas exakt Begrenzbares so wie geometrische Figur, wie Maß etc. Und ebenso in der Psychologie.

In der naturwissenschaftlichen Sphäre kann die Aufgabe gestellt sein, eine Morphologie der empirisch auftretenden komplexen Gestaltungen zu entwerfen, innerhalb irgendeines, durch einen obersten Typus, z.B. normal entwickeltes Tier, bestimmten Rahmen.


[1] Beginn einer neuen Vorlesungsstunde (Samstag, 20. Juli 1912).

[2] Randtitel von Edith Stein: Konkret beschreibende und exakt erklärende Naturwiss[enschaft] und Psychologie.

Transcriber

Thomas Vongehr