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M III 6/7b "79"

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Das gilt also auch für die Psychologie, in der zunächst prinzipiell geschieden bleiben muss Morphologie der in unserer psychologischen Erfahrung auftretenden konkreten Geistesgestaltungen mit all den morphologischen Regelungen, unter denen Bildung und Umbildungen dieser Gestaltungen stehen. Morphologie geht ja hier, wie in der Sphäre der physischen Naturseite, nicht nur auf eine Typik der relativ festen, dauernden Gestalten, sondern auch auf eine solche der Veränderungsformen, so der Entwicklung von Persönlichkeiten, von Charakteren, von Gedächtnistypen usw., von ihrer Bildung und Umbildung, genauso wie nach zoologischer Seite morphologisch der größte Teil dessen ist, was nicht nur Anatomie, sondern auch Physiologie uns darbieten.

Der Morphologie des Geistes und des Geisteslebens steht dann gegenüber das Analogon der nomologischen Physik, also die exakte nomologische Psychologie (die freilich bisher ganz und gar Postulat ist), die das Psychische durch die zu seinem ontologischen Wesen gehörigen exakten Bestimmungsstücke zu bestimmen sucht und auf sie bezügliche exakte Gesetze der psychischen Natur erforschen will.

Aus diesen Betrachtungen ersehen Sie die Irrigkeit eines allgemein beliebten Gedankens: Ein gewöhnlicher Gedanke ist der, dass Beschreibung Unterlage von Erklärung, also konkret beschreibende und klassifizierende Wissenschaft Unterlage für die abstrakten, die erklärenden Wissenschaften sei. Aber das ist verkehrt. Die abstrakten, die nomologischen Wissenschaften gründen sich gar nicht auf die konkreten, als welche sich in der Typik der erfahrenen Konkreta bewegen, während die abstrakten Disziplinen von den Typen gar nicht sprechen.

Der Physik und der nomologischen Psychologie als exakten Erfahrungswissenschaften entspricht eine rationale Physik bzw. rationale Psychologie als eidetische Wissenschaft. Die zum Wesen des physischen und psychischen Seins a priori gehörigen reinen und darum exakten Prädikate begründen reine Gesetze, welche Bedingungen der Möglichkeit empirischen Seins aussprechen: als Wesensgesetze der beiderseitigen Arten von Realitäten.

Wie steht es nun mit der Phänomenologie? Die Phänomenologie steht, wie wir früher sahen, in naher Beziehung zur rationalen Psychologie. Aber sie will nicht selbst rationale Psychologie sein, sie ist keine Wesenslehre der psychischen Realität, des Geistes und der die Idee des Geistes voraussetzenden Geistesgebilde und Geistesbeschaffenheiten. Sie will vielmehr eine Wesenslehre des reinen Bewusstseins sein, der reinen cogit[ationes] in phänomenologischer Reduktion, mit all dem, was in ihnen phansisch und durch Korrelatanalyse zu finden ist.

Transcriber

Thomas Vongehr