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A IV 5/85a "84"
Transcription
Man muss sich das völlig klarmachen: Die Begriffe, die man in der sinnlichen Abstraktion als Typenbegriffe bildet, all die beschreibenden Begriffe im Alltagsleben, wie kurz und lang, dick und dünn, rund und eckig, zackig, all die Gestaltbegriffe, die in der Naturgeschichte in Anlehnung an bekannte konkrete Gegenständlichkeiten allgemeiner verwendet werden, wie fächerförmig, bandförmig, lappen-, kelch-, lanzettförmig, gefedert, strauchförmig usw., sind, so unentbehrlich sie in der Morphologie sind, durchaus ungeometrische. Der Begriff der geometrischen Gestalt ist kein Allgemeinbegriff, der diese morphologischen Allgemeinheiten umspannt, und wenn die Geometrie in ihrem System von Axiomen alle möglichen Raumgestalten a priori zu konstruieren und wissenschaftlich zu bestimmen vermag, so betrifft das eben die geometrischen Gestalten. Eine Morphologie der in sinnlicher Anschauung fassbaren sinnlichen Gestalten ist etwas der Geometrie völlig Fremdes, und allgemeine Sätze für sinnliche Gestalten sind nicht etwa geometrische Sätze, und ebenso umgekehrt. Man darf sich nicht durch viele gleichlautende Worte wie Punkt, Gerade, Kreis, Ebene etc. leiten lassen. Es handelt sich freilich nicht um zufällige Äquivokationen, sondern um solche, die eine Wesensbeziehung andeuten. Punkt und Gerade im morphologischen Sinn haben schon etwas zu tun mit geometrischem Punkt, geometrischer Gerade. Aber die Art der Begriffsbildung ist eine wesentlich andersartige.
Das ist schon Descartes zu Bewusstsein gekommen, wie aus seiner Unterscheidung zwischen imaginatio und intellectio hervorgeht. Die sinnliche Abstraktion, oder, wie wir das cartesianische Wort gebrauchend auch sagen können, die imaginative, ist eine andere als die intellektive. Beiderseits kommen uns eventuell die begrifflichen Wesen zur Gegebenheit, beiderseits erfassen wir die „Idee“ des Geraden, des Punktes usw., aber das Erfasste ist ein wesentlich Verschiedenes, obschon doch wieder in Wesensbeziehung Stehendes. Auch vom Typischen gibt es „Ideen“, Ideen, die uns in klarer Ideation zur Gegebenheit kommen. Jedem klaren Begriff entspricht eine gegebene Idee, und an Klarheit fehlt es
Transcriber
Thomas Vongehr